26 Lotto-Millionen suchen ihr Opfer

■ Schlangen an den Lotto-Kiosken, die Veranstalter mahnen zur frühzeitigen Tippscheinabgabe, die Einnahmen steigen. Der Jackpot steht bei 26 Millionen Mark - und die Chance, ihn zu bekommen, bei ...

Schlangen an den Lotto-Kiosken, die Veranstalter mahnen zur frühzeitigen Tippscheinabgabe, die Einnahmen steigen.

Der Jackpot steht bei 26 Millionen Mark – und die Chance, ihn zu bekommen, bei 1 zu 140.000.000. Trotzdem: Alle machen mit.

26 Lotto-Millionen suchen ihr Opfer

Einer sagt: „Was willst du denn? Du hast eine Chance von 1 zu 1,5 Millionen.“ Antwort: „Na und? Ich lebe in einer Stadt von 1,2 Millionen Einwohnern und bloß ein einziger, der Schornsteinfeger zwei Straßen weiter, ist vom Blitz getroffen worden.“

„Treff wen treff“

(Gerhart Hauptmann:

„Die Ratten“)

Ich bin bereit. Ich nehme es auf mich. Zwar habe ich in ernstzunehmenden Blättern gelesen, daß ich als ungelernter Millionär in unabsehbare Anlageverhedderungen geraten werde, daß 26 Millionen viel zuwenig sind, um mich an der Sanierung des Staatshaushalts zu beteiligen, daß mindestens die Hälfte aller Lotto-Millionäre inzwischen obdachlos ist, zu plötzlicher Reichtum den Charakter verdirbt, fünf Bodyguards, die hohe Mauer ums Haus, die Sicherheitsanlagen, die Vermögensverwaltung, der ständesgemäße Ferrari, die später fällige Vermögenssteuer sowie das parasitische Freundespaar Saus und Braus mich an den Bettelstab bringen werden, den ich mir dann vermutlich gar nicht mehr leisten kann.

All dies gelesen und ernsthaft überdacht habend, ging ich zu meiner Lottoeinnahmestelle oder heißt es Annahmestelle? Für Theo Waigel ist es eine Einnahmestelle, denn er bekommt auch vom ärmsten Lottospieler die Hälfte des Einsatzes für seine Staatskasse, was absolut gerecht ist, weil ja das Glücksspiel verboten ist, somit diese 50 Prozent eine Art vorgezogenes Strafgeld sind. Fiele diese Einnahmequelle aber aus moralischen Gründen plötzlich weg, weil man sich ja sagen müßte, daß das eingeschüttete Geld in keinem Verhältnis zum ausgeschütteten steht, vor allem bereits versteuert ist und damit der Verdacht einer Doppelbesteuerung nicht auszuschließen wäre, dann entstünde in Waigels Säckel ein Loch, und die Steuern müßten erhöht werden. Folglich gebietet mir meine staatsbürgerliche Pflicht, meinen Einsatz zu leisten und mitzuspielen.

Bisher habe ich immer meine Pflicht getan. Zunächst war das noch einigermaßen überschaubar, weil es nur um den Fußball-Toto ging. Der Erfolg des Totos zeugte das Lotto 6 aus 49. 6 aus 49 zeugte das zusätzliche 6 aus 39. Später folgten Spiel 77, Zusatzzahl, Superzahl, was immer mit einer Erhöhung des Einsatzes verbunden ist, aber natürlich auch mit einer höheren Gewinnsumme. Betrachtet man den Erfolg dieses Glücksspielunternehmens, ist wohl mit einem Dienstags- und Donnerstagslotto mit 10 aus 69, mit 17 und 4 Zusatzzahlen sowie einer Superzusatzzahl zu rechnen, wobei das Wort Zahlen eine wesentliche Rolle spielt. Überall werden Jackpots entstehen, aber vor allem eine nicht enden wollende Spannung. Das Sportliche an der ganzen Sache darf man nicht unterschätzen!

In dieser Woche, sagt mein Kioskbesitzer, haben sich die Einsätze der Lottosportler um 100 Prozent erhöht! Was die Lottounternehmer bedauern, ist, daß dieses 26-Millionen-Spiel ausgerechnet in die Haupturlaubszeit gefallen ist. Nach kurzem Nachdenken wird man ganz gewiß auf die Einführung des Briefspiels kommen. Die Einsatzfreudigkeit des Lottospielers ist ungebrochen. Es ist noch weit mehr aus ihm herauszuholen. Der Kioskbesitzer berichtet zum Beispiel, daß viele seiner Kunden zum Systemspiel übergegangen sind, also zur flächendeckenden Chancenauswertung, und ihre Einsätze in dieser Woche bis auf 262 Mark erhöht haben. Dagegen komme ich mir direkt verzagt und risikoscheu vor. Wenn ich so meinen Anteil am Auskommen der Lottogesellschaft und am Einkommen des Finanzministeriums in den letzten 20 Spieljahren überschlage, komme ich auf läppische 14.400 Mark mit einem Gewinnrückfluß von 423 Mark. Ich nehme die mannigfachen Angebote einfach nicht entschlossen genug wahr.

Das liegt daran, daß ich zumindest diesem System kritisch gegenüberstehe. Ich habe einfach den Verdacht, daß die angebotenen Systeme der Lottobosse sich in nichts von denen der halbseidenen Zahlengaukler und Pseudomathematiker unterscheiden. Wäre es anders, könnte man von dem gewaltigen Kleine-Leute-Roulette recht und schlecht aber leben.

Nein, wirklich, um alles in der Welt möchte ich kein Spielverderber sein und so vielen, die da sagen: „Man gönnt sich ja sonst nichts“, die Spannung bei den Ziehungsfeierlichkeiten nehmen, aber wenn ich die Hoffnung, die wir uns machen, in Vergleich setze zu den Chancen, die wir haben, entwickelt sich, tief unter meiner Spielfreude, der Verdacht, daß ich abgezockt werde.

Und doch: Der Jackpot muß her! Heute las ich in vier verschiedenen Zeitungen, daß da 28 Millionen, 32 Millionen, in Wirklichkeit aber 42 Millionen drin sein werden. Natürlich hat sich dadurch die Länge der Schlange vor meinem Kiosk verdoppelt.

So etwas, sagt der Kioskbesitzer, hat er bisher noch nie erlebt, und er befürchtet, daß ihm die Lottoscheine ausgehen werden. Hauptgesprächspunkt der zukünftigen Multimillionäre: Was werden wir mit dem Geld machen? Eine anständige Wohnung soll es sein, eine große Reise, den Rest anlegen und von den Zinsen leben.

Aber wie sicher sind Banken? Wieviel ist das Geld noch wert in zehn Jahren? Die Verwandten werden alle kommen und ihre Beute abholen. Der Pfarrer will eine Spende für die neue Kirche. Eine Million ist auch nicht mehr das, was sie früher mal war. Dieter Hildebrandt