■ Vom Nachttisch geräumt: Selbstporträts
Günther Anders hielt 1943 im kalifornischen Exil einen Vortrag über Rodin. Werner Reimann hat ihn übersetzt und zusammen mit Werner Oberschlick herausgegeben. Ein kleiner Band mit vielen Abbildungen und nicht einmal 50 Seiten Text. Dem Sozialphilosophen Günther Anders ist der Bildhauer vor allem ein isolierender Künstler. Nackten Frauen und Männern ist ihre gesellschaftliche Herkunft nicht mehr anzusehen. Anders zitiert Rilke, der in der „obdachlosen Skulptur“ Rodins dessen Genie erkennen zu glaubte. Der bedeutende Künstler stehe über den Klassen, habe mit den herkömmlichen Insignien der Macht oder Ohnmacht nichts zu tun. Der marxistisch geschulte Anders erkennt in den Rodinschen Skulpturen auch Selbstporträts des Künstlers. Deren Isolation ist auch ein Reflex derjenigen des autonomen Künstlers. Anders schreibt über „Der Schatten“: „Er drückt sich aus. Aber gegenüber niemandem. Er kommuniziert, aber mit keinem Partner. Er betet, aber zu keinem Gott. Mit der Einführung dieser äußerst seltsamen ,partnerlosen‘ Gebärde hat Rodin Geschichte gemacht: Der ganze moderne Tanz, insbesondere die Kunst Mary Wigmans, lebt von dieser ,reinen‘ und irgendwie narzißtischen Art von Gebärde.“
Wie immer bei Anders finden sich auch in diesem Text prägnant- plakative Formulierungen. Die berühmte Balzac-Statue von 1897 bezeichnet Anders als „glorifizierten Kinderschreck“. Das war sicher auch ein Selbstporträt des knurrigen Breslauers.
Günther Anders: „Obdachlose Skulptur – Über Rodin“. Übersetzt von Werner Reimann. C. H. Beck Verlag, Broschur, 124 Seiten, 35 Schwarzweißabbildungen, 19,80 DM
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