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Stille Tage im Klischee

Nicholson Baker, Porträtist der Angestelltenwelt, hat einen schwergewichtigen Porno geschrieben  ■ Von Jörg Lau

Das neue Buch von Nicholson Baker ist einer verbreiteten und doch arkanen Kunst gewidmet: der Masturbation.

Es ist sein bisher umfangreichstes geworden, was niemanden wundern wird, der seine Romane „Die Rolltreppe“, „Zimmertemperatur“ und „Vox“ gelesen hat. In den ersteren beiden Werken hatte sich Baker schon als Meister der Abschweifung in die nächste Nähe gezeigt, der den allzu gewöhnlichen Dingen – einem Strohhalm, einem Schnürsenkel, einem Türknauf – eine geradezu abgründige Rätselhaftigkeit und Plastizität zu verleihen vermochte. Aber nicht nur das: ein Stück Büroteppichboden konnte, wenn Baker seine taktile Textur beschrieb, extrem sexy wirken. „Vox“ schließlich war der endgültige Telephonsex-Roman, voller heiterer, exzentrischer Sexphantasien, in denen der immer schon mitschwingende sexuelle Sinn von Bakers Detail-Fetischismus offen zutage trat.

Nichts einleuchtender, als daß Nicholson Baker die Literaturgeschichte nun um einen Virtuosen jener solitären Kunst bereichert, die wir hier umstandslos beim oft verächtlich gemeinten Namen nennen sollten: Wichsen. Der Titel ist hintersinnig: Die „Fermate“, ein musikalisches Notationszeichen, ist von besonderer Bedeutung, wie das Lexikon verrät, „über dem Quartsextakkord der Dominante in Konzertstücken, wo sie den letzten Abschluß hinausschiebt und dem Solisten Gelegenheit zur Einlage einer Kadenz bietet.“

Arnold Strine, Bakers Held und Ich-Erzähler, ein fünfunddreißigjähriger Mann von einiger Bildung, der aber irgendwie in einem Zeitarbeits-Job hängengebleiben ist, besitzt eine besondere Fähigkeit, die ihm immer wieder Gelegenheit zur Einlage wahrhaft ausgefeilter Kadenzen bietet. Er kann die Welt anhalten, in eine Art Dornröschenschlaf versetzen, oder, um es mit seinen eigenen Worten zu sagen, „in die Furche springen“. Zum ersten Mal macht er von seiner Fähigkeit in der vierten Schulklasse Gebrauch, um eine Lehrerin zu inspizieren, die er „sehr gern hat“. Mitten in der Unterrichtsstunde hält er die Zeit an, zieht sich aus und geht zwischen seinen Mitschülern nach vorne zur Tafel, wo die erstarrte Miss Dobzhansky steht: „In der wattigen Lautlosigkeit des stillgelegten Universums löste ich zwei Knöpfe. Natürlich zitterten mir die Finger. Und noch jetzt, fünfundzwanzig Jahre danach, zittern mir manchmal die Finger, wenn ich sie dabei beobachte, wie sie die Knopfreihe einer Hemdbluse lösen, zumal wenn diese locker sitzt, so daß sich einem, wenn man sie fertig aufgeknöpft hat, nicht mehr enthüllt als zuvor und man die einander noch immer überlappenden Seiten der Bluse in einer eigenständigen bewußten Handlung mit den Handrücken wie einen Vorhang teilen muß. Ich lugte in die ovale Welt, die ich gerade erst geschaffen hatte. Was ich von ihrem BH sehen konnte, war sehr interessant. An den Rändern der beiden Stücke, die seitlich an den runden busenhaltenden Teilen saßen, waren kleine x eingenäht, und auf den busenhaltenden Teilen waren exakt genähte Nähte, die diagonal über ihre Kurven liefen, wie die geschlossenen Augen einer schlummernden Katze...Ich löste unten einen weiteren Knopf, so daß ich nun meinen ganzen Kopf bequem mit ihrer Bluse umhüllen konnte.“

Aufsitzmähererotik

Arnold ist, wie man sieht, eigentlich ein zarter und wohlwollender Mitmensch; er ist sich durchaus darüber im klaren, daß die meisten anderen Leute es wahrscheinlich nicht in Ordnung finden, daß er nun schon seit fünfundzwanzig Jahren Frauen paralysiert, auszieht, untersucht und befummelt, bis es ihm kommt. Vor Jahren hat ihn seine Freundin Rhody verlassen, als er ihr von seinen time-outs erzählte. Irgendwann hat er beschlossen, seine Autobiographie zu schreiben. Eine Rechtfertigung seines Verhaltens, das weiß er selber, wird sich hier nicht liefern lassen. Er wird einfach von seinen „Furchenerlebnissen“ berichten. Zum Beispiel von dem ersten Mal mit Joyce, einer Vorgesetzten, deren Diktate er gerne abtippt. Er ist von Joyce' Schamhaar fasziniert, dessen Konturen denen „eines schwarzen Ledersattels an einem Rennrad“ ähneln: „Doch statt gleich die Hand daraufzulegen, beraubte ich mich ein Weilchen seines Anblicks und legte die Hand statt dessen sachte auf ihren Zopf, der kühl und dick und weich und dicht ist – ein vollkommen anderer Begriff von Haar, so anders, daß die Vorstellung, die beiden Haargattungen teilten sich denselben Begriff, befremdlich ist –, jedoch ihrer Kopfkurve in gleicher Weise folgt wie das Schamhaar der Kurve über ihrem Schambein, und als ich spürte, wie die Empfindung des französischen Zopfes in die Höhlung meiner Hand drang, die sich nach sexuellen Formen und Texturen sehnt, kraulte ich mich durch ihr Schokotortenfell und verband so die beiden aufreizenden Handvoll selbstgezogenes Protein mit den Armen, und mir war, als würde ich eine Autozündung kurzschließen; die Doppelvergaser meines Herzens heulten auf.“

Man sollte sich nicht lange winden und Bakers Roman, auch wenn er streckenweise den höchsten Maßstäben der „reinen“ Ästhetik, der KunstKunst, genügt, ruhig einen Porno nennen. „Die Fermate“ ist ganz offensichtlich zu weiten Teilen ein Buch fürs einhändige Lesen. Und es gehört dank der bizarren Phantasie des Autors zu den komischsten Exemplaren seines Genres; man lese etwa, wie Karyn, eine der Heldinnen dieser seltsamen Welt, ihr Glück zuerst auf dem Sattel eines Aufsitzmähers, später, unter Zuhilfenahme mehrerer Dildos, im Laderaum eines UPS-Lasters findet. Baker wendet einen bewährten Trick der pornographischen Literatur an – die „Geschichte in der Geschichte“. Arnold, der Protagonist, schreibt selber Pornos, die er mit Hilfe seiner Furchenfähigkeit unter die Leute bringt. Die Geschichte mit Karyn und dem Mäher zum Beispiel ist seinem Kopf entsprungen. Er schreibt sie auf und deponiert sie am Strand, um aus den Dünen die Erregung auf dem Gesicht jener Frau zu lesen, die seine Ferkeleien findet und nach ein paar vorsichtigen Seitenblicken zu lesen beginnt.

In diesen ebenso aus- wie abschweifenden Passagen zeigt sich bei allem Witz – Baker läßt, was man hierzulande die weiblichen „Geschlechtswerkzeuge“ nennt, unter vielerlei lustigen, freundlichen Pseudonymen auftreten (Mariannengraben, Blumenbüchse, Georgia O'Keefe) –, daß Pornographie sich nicht transzendieren läßt. Auch in der sublimsten Ausprägung verträgt sie, genau wie der Kriminalroman, nur eine bestimmte, geringe Menge Ironie. Ein pornographischer Text, dessen Autor uns ständig zwischen den Zeilen zuzwinkert, funktioniert nicht. Bakers Buch macht hier, so exzentrisch und outriert seine Erzähl-Schleifen sich auch wölben mögen, keine Ausnahme. Es fügt sich, wenn es zum Schwur kommt, in die ehernen Zwänge des Genres. Wenn es in die Zielgerade geht, stellt sich denn auch schnell ein Ton ein, den man aus Produkten minder begabterer Autoren des Genres kennt:

Heiße Bechamelsoße

„Ich leckte ihre Knöchel; ich tippte mit dem Schwanz gegen ihre Brüste, um zu sehen, wie sie bebten; ich setzte mich, ihr zugewandt, ebenso wie sie rittlings auf die Wanne und bearbeitete wie wild meinen Richard, bis er fast soweit war. Als ich bereit war, stand ich auf und sagte mit seltsamer Stimme, in einem fast flehenden Singsang: ,Laß mich bei dir sein, Süße, du bist so sexy, bitte laß mich auf dein Gesicht kommen‘, und ohne eine Antwort abzuwarten, ließ ich meine ganze heiße Bechamelsoße auf ihre fest geschlossenen Augen schießen ...“

Solche Prosa bleibt auch mit Bechamelsoße der- oder demjenigen quer im Halse stecken, die oder der es nicht darauf anlegt, sich sexuell stimulieren zu lassen. Sie wird aber selbst für diejenigen, die es nötig haben, bei aller entschlossenen Verworfenheit, bei allem Willen zur stetigen Klimax, schnell fad. Zielt Baker mit seinem neuen Buch auf den großen kommerziellen Erfolg? Wohl kaum, das Buch ist wirklich über alles Kalkül hinaus anstößig und peinlich.

Und hier liegt auch nicht das Hauptproblem dieses Buchs; das verehrte Publikum wird je nach Interessenlage weiterlesen oder die Sache angewidert in die Ecke feuern. Es bleibt etwas höchst Verstörendes an der pornographischen Phantasie Nicholson Bakers: eine geradezu mikroskopische Sensibilität für die feineren Regungen des Herzens, sobald sie „fermatiert“, stillgestellt, mortifiziert sind, geht einher mit äußerster Stumpfheit und Unempfindlichkeit gegenüber der bewegten, pulsierenden, unkontrollierbaren Welt. „Die Fermate“ ist unter all den karnevalesken Ausschweifungen eine infantile Kontrollphantasie.

Nicholson Bakers Helden waren immer schon von einer Fragmentierung ihrer Welt bedroht; ihr Erfinder hat aus der Verwirrung bislang noch immer eine Komödie zu gestalten verstanden. Sein neuer Held nun muß dank der ihm von seinem Schöpfer mitgegebenen märchenhaften Fähigkeit den Kampf mit der verwirrten Welt gar nicht mehr aufnehmen. Der Preis dafür, die zementierte Einsamkeit, ist allerdings beängstigend hoch. Arno Strines angstfreie Welt ist eigentlich ein Alptraum. Pornotopia, das Land, in dem sich dem frei schweifenden Begehren kein Widerstand bietet, ist eine trostlose Vorstellung, ein obsessives Ödland ohne wirkliche Leidenschaften. Was ist bloß mit Nicholson Baker los, daß er seine Utopie über fast 400 Seiten ausspinnt? Wer „Vox“ kennt, weiß, daß er etwas von Verführung versteht, von Zuständen auf der Schwelle von Selbsterfahrung und Hingabe, die sich bis auf weiteres mit keinem Cybersex-Automaten erleben lassen.

Nicholson Baker scheint seine Fermaten-Phantasie selber irgendwann unheimlich geworden sein; was ihm einfiel, um den Schrecken über die eigene Erfindung zu entschärfen, kann ganz und gar nicht überzeugen. Am Ende führt er Arno mit Joyce (die mit dem „dichten, sisalig satt federnden Vlies“) zusammen und läßt ihn mit einem Lob der Zweisamkeit Abbitte leisten, als wären ihm die narzißtisch-autoerotischen Regressionsschübe seines Helden nun peinlich. Gegen seine barocken Ausschweifungs-Phantasien bleibt das Happy-End von Joyce und Arno aber reichlich dürr.

Arno verliert seine Furchenfähigkeit an Joyce. Bleibt zu hoffen, daß Nicholson Baker bald jene Fähigkeit wiedergewinnt, die ihn zum herausragenden Autor seiner Generation gemacht hat – es mit der Welt und ihrem Gewicht aufzunehmen.

Nicholson Baker: „Die Fermate“. Roman. Aus dem Englischen von Eike Schönfeld. Rowohlt Verlag, 348 Seiten, geb., 39,80 DM

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