Kinderarbeit

■ betr.: „Kids jobben für Luxus“, taz vom 12.8.94

[...] Getreu des alten Mottos „es nicht sein kann, was nicht sein darf“, antwortete noch im letzten Jahr die Bundesregierung auf eine große Anfrage der Bündnisgrünen, es gäbe in der Bundesrepublik keine Kinderarbeit. Und auch auf die erschreckend hohen Zahlen der ersten Münsteraner Studie (zirka 50 Prozent aller Kinder arbeiten, davon wiederum zirka 50 Prozent verboten) hatte mensch eine passende Antwort: Daran sei die NRW-Landesregierung schuld, da sie durch das lobenswerte zehnte Pflichtschuljahr auch Zehntkläßler zu Kindern im Sinne des Gesetzes macht. [...]

Die verantwortlichen PolitikerInnen sind aber auch nicht die einzigen, die Kinderarbeit als Problem nicht wahrnehmen – dies ist sogar bei den Betroffenen selbst und auch bei ihren Eltern der Fall, die zu fast 100 Prozent die Arbeit ihrer Kinder befürworten, egal in welcher zeitlichen Ausdehnung, egal ob die Arbeit verboten ist oder erlaubt. Und das, obwohl von den befragten SchülerInnen in NRW jeweils 20 Prozent angaben, ihre Arbeit hätte negative Auswirkungen auf die Schule oder würde sie nervlich belasten. Sogar ein Drittel der Befragten gab zu, die Arbeit würde sie körperlich belasten. Der reale Prozentsatz dürfte noch um einiges höher liegen – wie gesagt: diese Zahlen stützen sich auf die eigenen Angaben der SchülerInnen.

Besonders HauptschülerInnen sind betroffen von der Doppelbelastung Schule und Arbeit. Ihr Anteil an der verbotenen Arbeit ist beispielsweise doppelt so hoch wie der von GymnasiastInnen. Gerade die Jugendlichen aus gesellschaftlich benachteiligten Gruppen setzen den Erfolg ihrer schulischen Ausbildung, setzen den Hauptschulabschluß aufs Spiel, der ihnen sowieso keine besonders guten Chancen im Berufsleben beschert. Statt dessen arbeiten sie für Hungerlöhne (1989 lag der Mittelwert aus der NRW-Studie bei zirka sechs DM) in Betrieben.

Die Anzahl der arbeitenden Kinder selber, ihre Verteilung auf die Schulformen und damit auf die gesellschaftlichen Schichten, die Auswirkungen dieser Arbeit auf Schule und Gesundheit, die besonders gravierende Ausbeutungssituation von Kindern auf dem Arbeitsmarkt – all das sind gute Gründe, dagegen anzugehen. Aber wie?

Ein generelles Verbot von Kinderarbeit wird wohl kaum etwas nützen. Zum einen zeigt der hohe Anteil verbotener Kinderarbeit, daß dieses Gesetz keinen Jugendlichen davon abhält zu arbeiten und keinen Unternehmer, Kinder und Jugendliche für verbotene Tätigkeiten einzustellen. Zum anderen würden damit nicht die Gründe beseitigt, die überhaupt zu Kinderarbeit führen. Diese sind vielfältig. Natürlich ruft unsere Konsumgesellschaft eine veränderte Bedürfnisstruktur bei Jugendlichen hervor, die durch Gruppendruck noch einmal verstärkt wird. Allerdings muß auch berücksichtigt werden, daß Jugend durch Individualisierung und durch eine Verlängerung der Ausbildungszeiten erst seit kurzem überhaupt eine eigenständige Lebensphase ist, die Jugendliche möglichst selbstbestimmt durchleben wollen. Dazu muß ihnen die Gesellschaft auch die Möglichkeit geben. Nicht umsonst interpretieren die Münsteraner Soziologen die Arbeit von Jugendlichen auch als Beitrag zur Ablösung vom Elternhaus.

Die Forderung, auf die das ganze hinausläuft, ist ein elternunabhängiges SchülerInnen-BAföG in einer Größenordnung, die wirklich ein eigenständiges Leben ermöglicht. Elternunabhängig, weil nicht davon auszugehen ist, daß wohlhabendere Eltern ihren Kindern auch das geben, was ihnen zusteht, ohne zum Beispiel das Geld als Sanktionsmittel zu benutzen. Bei diesen Eltern kann/soll sich der Staat das Geld später von den Eltern zurückholen. Diese Forderung ist auch im Zusammenhang zu sehen mit der alten Forderung nach einer sozialen Mindestsicherung für alle Menschen und nach einem Recht auf Wohnen. Denn auch die eigene Wohnung beziehungsweise das eigene Zimmer ist ein Recht, daß mensch Jugendlichen zugestehen muß.

Zur Zeit passiert das genaue Gegenteil. Schon kurz nach der Regierungsübernahme durch die konservative Bundesregierung wurde das SchülerInnen-BAföG de facto abgeschafft. Weder die Freibeträge noch die Höhe des BAföGs werden der Entwicklung angepaßt. Und wenn, dann nur sehr schleppend und nicht in der nötigen Höhe. Daran dürfte sich so schnell nichts ändern, vor allem, wenn die Meinungsforscher recht behalten sollten in bezug auf die Ergebnisse der Bundestagswahl.

Die BundesschülerInnenvertretung wird weiterhin alles tun, um dieses Thema und die daraus resultierenden Forderungen in die Diskussion zu bringen. [...] Harald Moj, BundesschülerIn-

nensprecher, Potsam