„Gewaltbekämpfung heißt Kampf gegen Armut“

■ Christian Pfeiffer von der „Vereinigung für Jugendgerichte “ zur Nutzlosigkeit von Repression gegen Jugendgewalt

Alle vier Jahre veranstaltet die Internationale Vereinigung der Jugend- und Vormundschaftsrichter (AIMJF) einen Kongreß, der in diesem Jahr zum insgesamt 14. und zum ersten Mal in Deutschland stattfindet. „Junge Rechtsbrecher und ihre Familien“ lautet das Thema des Kongresses, zu dem etwa 400 TeilnehmerInnen aus 62 Staaten nach Bremen reisten, darunter 30 Staaten aus der „Dritten Welt“ und Osteuropa. Die einwöchige Veranstaltung wurde gestern von Paolo Vercellone, dem Präsident der AIMJF, von Christian Pfeiffer, 1. Vorsitzender der deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen, vom Bremer Justizsenator Henning Scherf und von der Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger eröffnet. Wir sprachen mit Christian Pfeiffer, als Leiter des Kriminologischen Forschungsinstitutes Hannover bekannt für seine sozialkritischen Analysen.

taz: Statistiken können so und so gelesen werden - Sind Sie derselben Meinung wie die Bundesjustizministerin, daß die Gewaltbereitschaft der Jugendlichen steigt?

Pfeiffer:Sie hat jedenfalls Recht für die letzten Jahre. Wir können nicht leugnen, daß sich in Deutschland eine wirkliche Zunahme der Gewalt bei unter 25jährigen ergeben hat. Ich sehe das auch als Ausdruck davon, daß sich die ökonomische Lage der unter 25jährigen dramatisch verschlechtert hat. Wir hatten noch niemals in der Geschichte der Nachkriegszeit einen so hohen Prozentsatz junger Menschen in Deutschland, die von Sozialhilfe leben. Hinzu kommt, daß wir in einer extrem konsumorientierten Welt leben, in der das –Haste nichts, biste nichts' regiert. In einer solchen Situation empfinden junge Menschen, die an der Grenze zur Armut leben, andere Menschen, die aus dem Ausland kommen, als Bedrohung für sich. Sie werden bestärkt von dem dummen Stammtischgeschwätz, das von „Überschwemmungen“ handelt und dergleichen. Und weil sie jung sind, weniger Hemmungen haben, radikaler denken, verstehen sie sich als die Vollstrecker eines heimlichen Volkswillens, wenn sie losprügeln. Das hat es in dieser Dichte früher so nicht gegeben. Wir müssen feststellen, daß bei den unter 25jährigen anders als bei den älteren die Bereitschaft, Gewalt einzusetzen, größer ist als Ende der 80er Jahre.

Sie haben gesagt: „Nicht der Wertewandel sollte das große Thema der Kriminalpolitiker sein, sondern die neue Armut in unserem Land.“ Haben Sie den Eindruck, daß die Bundesregierung da genügend tut?

Pfeiffer: Nein, die Bunderegierung setzt derzeit vor allem auf eine Verschärfung des Strafrechts, auf eine Stärkung der Repression. Das scheint mir eine Illusion. Wir wissen aus dem Ausland, daß das schiefgeht, auch wenn die Amerikaner es uns gerade wieder vormachen. Sie selber demonstrieren neben den Engländern in ihren Zahlen am deutlichsten, daß harte Gesetze keine Heilmittel sind gegen das, was sich im Augenblick in den sozialen Randgruppen abspielt. Wir müssen bedenken, in den 70er Jahren gab es für die Armen noch die „sozialistische Hoffnung“. Das ist zusammengebrochen. Die linken Parteien und die Gewerkschaften können nicht mehr am ersten Mai Visionen verkünden, die den Armen den Himmel auf Erden versprechen. Die Glaubhaftigkeit ist nicht mehr da. Was früher durchaus ein Bindemittel war, die soziale Integration der Armut durch politische Visionen, die glaubhaft durch Repräsentanten aus Politik und Gewerkschaft nach außen getragen werden, dieses Stabilisierungselement ist weg.

Was wir heute erleben, ist der Kampf der Gruppen untereinander, die im harten Verteilungswettbewerb stehen bei ihren Versuchen, vom Staat Unterstützung zu bekommen, Wohnung, Arbeit, sonstige soziale Hilfen. In den Vorstädten Europas, in Frankreich, England, aber auch bei uns ist überall erkennbar, daß wir eine wachsende soziale Desintegration haben. Die Zahl der Obdachlosen unter den Tatverdächtigen, die in Deutschland registriert wurden, ist innerhalb von vier Jahren von 38.000 auf 110.000 angewachsen. Oder das Drogenelend: Da hatten wir ein Wachstum der Taten von 81.000 auf 170.000 in vier Jahren. Das sind deutliche Signale dafür, daß das Elend in dieser Gesellschaft angewachsen ist, und daß wir Kriminalitätsbekämpfung, auch Gewaltbekämpfung, primär betreiben müssen durch Bekämpfung von Armut.

Nicht anders als in den Ländern der dritten Welt, obwohl es dort noch viel krasser ist. Wenn sie bedenken, daß in Rio de Janeiro Hundertausende von Jugendlichen auf der Straße leben - logisch, daß die von Kriminalität leben, und daß hier das ganze Konzept von Kriminalität nicht mehr paßt. Davon sind wir noch weit entfernt, aber auch bei uns wächst das Elend. Und wenn Menschen keine Perspektiven sehen, daß sie aus eigener Kraft aus der Misere rauskommen können, dann wird's kritisch. Daher muß das zentrale Thema die soziale Integration junger Menschen sein, die Bekämpfung der Perspektivlosigkeit junger Menschen. Dann wird sich die Kriminalitätslage auch bei jungen Menschen wieder so stabilisieren, wie wir das gewöhnlich bei sozial integrierten Menschen haben.

Sehen Sie dafür Ansätze?

Pfeiffer:Ja und nein. Es gibt in den Sozialausschüssen die Erkenntnis, daß Kürzung der Sozialhilfe ein sehr problematisches Konzept wäre. Man könnte böse sagen, es wäre ein Kriminalitätsförderungskonzept. Es gibt bei der SPD erstaunliche Mühen, ihr altes Thema Bekämpfung von Armut als eigenes zu entdecken. Stattdessen hat auch die SPD eine Zeit auf law and order gesetzt und sich profiliert mit Wahlkampfplakaten, wo ich nur staunen konnte. Bei den Grünen ist das durchaus im Visier, bei der FDP sehe ich es auch. Ich habe Hoffnung, daß es möglich ist, die Parteien dafür zu sensibilisieren. Und der Kongreß kann ja ein bißchen dazu beitragen.

Interview: Dora Hartmann