: Regierung lockt Brasiliens Wähler
Präsidentschaftswahlen am 3. Oktober / Der Kandidat der Führungsschicht, Fernando Henrique Cardoso, überflügelt erstmals Arbeiterführer Lula in den Umfragen ■ Aus Rio de Janeiro Astrid Prange
Teile und herrsche. Mit diesem altbewährten Rezept der Römer will die brasilianische Führungsschicht am 3. Oktober die Präsidentschaftswahlen gewinnen. Ihr Kandidat: Fernando Henrique Cardoso. Der 62jährige Soziologe und Sozialdemokrat hat den bisherigen Favoriten Luis Inacio Lula da Silva, Kandidat der brasilianischen Arbeiterpartei (PT), nun zum ersten Mal in den Umfragen überflügelt.
Noch vor zwei Monaten führte der Metaller Lula mit 42 Prozent unangefochten alle Meinungsumfragen an. Doch seit der Währungsreform im Juli (die taz berichtete) sinkt Lulas Stern beinahe so schnell wie die astronomische Inflationsrate Brasiliens. Den jüngsten Meinungsumfragen zufolge ist der PT-Kandidat mittlerweile auf 29 Prozent in der Wählergunst abgerutscht. Sein Herausforderer Cardoso, der ein politisch äußerst umstrittenes Bündnis mit den beiden konservativen Parteien Brasiliens PFL und PTB einging, hat 36 Prozent der Stimmen für sich erobert.
Die Wahlkampfstrategen der Arbeiterpartei führen den Abstieg ihres Kandidaten in erster Linie auf die vehemente Unterstützung des brasilianischen Regierungsapparats für Fernando Henrique Cardoso zurück. „Itamar (Präsident Brasiliens, d. Red.) fällt alle Entscheidungen zugunsten von Fernando Henrique“, beschwert sich der 49jährige Lula. Präsident Itamar Franco ist Cardoso in der Tat freundschaftlich verbunden. Als ehemaliger Außen- und Wirtschaftsminister der Regierung Francos ist Cardoso zudem für die Planung der Währungsreform, genannt „Plano Real“, verantwortlich.
Währungsreform im Zeichen des Wahlkampfes
Daß es sich bei dem Antiinflationsprogramm der Regierung vom Juli nach argentinischem Vorbild in erster Linie um ein wahltaktisches Manöver zugunsten des ehemaligen Wirtschaftsministers und jetzigen Präsidentschaftskandidaten handelt, wird nicht nur von der PT kritisiert. Auch Brasiliens ehemaliger Finanzminister Delfim Netto, Mitglied der konservativen Partei PPR, sieht in der Koppelung der neuen brasilianischen Währung „Real“ an den US-Dollar eine „Strategie des Estabishments“. Doch Brasiliens Unternehmer akzeptieren die Verteuerung ihrer Exportprodukte aus Angst vor einem Wahlsieg Lulas zähneknirschend. Dem Volk wiederum versüßt die Regierung den Kampf gegen die Geldentwertung mit der Anhebung des Mindestlohnes von bislang 65 auf 70 Dollar im Monat.
Der Einsatz der brasilianischen Regierung und der Mehrheit der Medien für Fernando Henrique Cardoso geschieht mit gutem Grund. Schließlich wird bei den Wahlen am 3. Oktober die gesamte politische Klasse des Landes erneuert. Die rund hundert Millionen wahlberechtigten Brasilianer wählen nicht nur ein neues Staatsoberhaupt und 27 Gouverneure, sondern entscheiden gleichfalls über die neue Zusammensetzung von Bundestag, Senat und Länderparlamenten. „Fernando Henrique ist ein echtes Fundstück für die koloniale Kruste dieses Landes“, stichelte sein Konkurrent Leonel Brizola kürzlich in einer Fernsehdiskussion zwischen den Präsidentschaftskandidaten.
Der ehemalige Gouverneur des Bundesstaates Rio de Janeiro ist davon überzeugt, daß die zunehmende Polarisierung zwischen dem Akademiker Cardoso und dem Arbeiterführer Lula bereits ein Sieg des brasilianischen Establishments ist. „Die Elite hat es geschafft, die Koalition der beiden Kandidaten, die sich in vielen Punkten nahestehen, zu verhindern“, mutmaßt der 72jährige Brizola.
Sein Verdacht ist nicht ganz unberechtigt. Fernando Henrique Cardoso muß erhebliche Zeit dafür aufwenden, die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, daß seine Regierung nicht von dem konservativen Koalitionspartner PFL dominiert wird. „Politik ist nicht Theologie, die Welt hat sich verändert“, rechtfertigte er sich gegenüber den Auslandskorrepondenten in Rio. Als Beispiel für die mögliche Zusammenarbeit zwischen Parteien mit unterschiedlichen ideologischen Konzeptionen zitierte er die Koalition zwischen Christdemokraten und Sozialisten im Nachbarland Chile.
Lula läßt das Argument nicht gelten. Es sei eine historische Ungerechtigkeit, so der Gewerkschaftsführer, die chilenischen Christdemokraten, die Widerstand gegen Pinochet geleistet hätten, mit den Politikern der PFL gleichzusetzen, die bewußt die brasilianische Militärdiktatur (1964 bis 1985) unterstützt und von ihr profitiert hätten. Daß Fernando Henrique Cardoso nun auch noch eine Agrarreform in Brasilien verwirklichen will, verärgert Lula erst recht. „Warum will der Verein der Großgrundbesitzer auf einmal Land verteilen?“ provoziert der PT-Kandidat. Das sei glatter Wahlbetrug.
Bis jetzt sind die Großgrundbesitzer aus dem Nordosten, von denen viele der PFL angehören, in Brasilien eher dafür bekannt, die Heerscharen der Landlosen mit Gewalt von ihren Gütern vertreiben. Nach Angaben von Brasiliens Landlosenbewegung „Sem Terra“ kamen bei den Landkonflikten im vergangenen Jahr 38 Menschen ums Leben. Rund 13.000 Brasilianer, darunter Kinder, arbeiten bei der Zuckerrohrernte im Nordosten oder beim Abbau von Holzkohle unter sklavenähnlichen Bedingungen.
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