Sanssouci: Vorschlag
■ „Carnavalito“ – Latino-Minifestival im Prenzlauer Berg
Das passiert einem Schreiberling nicht alle Tage. In einer Kreuzberger Küche, ein dampfender Kartoffeltopf auf dem Herd, bekommt er ein Lied von verlorener Liebe vorgesungen, auf spanisch und a cappella, aus dem Mund einer kolumbianischen Opernsängerin. Im Hintergrund spielt dazu ein Walzer im Gegentakt. Anlaß für die spontane Nachmittagskunst ist ein Gespräch mit dem jungen kolumbianischen Performer und Regisseur Uriel Benjumea, Organisator des Theaterfestivals „Carnevalito“. Die Sangesdame nebst vorgetragenem Lied ist Bestandteil seines Beitrags „Die Fremde in der Nähe“.
Ungewöhnlich wie diese Begebenheit ist das gesamte Mini- Event, das von heute bis Sonntag im Prenzelberg stattfindet. Mit ganzen 6.500 Mark aus Senats- und Bezirkstöpfen sowie einer Handvoll Spenden stellte Benjumea eine Veranstaltungsreihe auf die Beine, welche die Festtradition seines Heimatkontinents auf deutschen Boden übertragen will. Viele der beteiligten lateinamerikanischen Künstler und Künstlerinnen sind mittlerweile in Berlin ansässig, wie der Chilene Adolpho Assor, der sich mit seinen obsessiven Monologen im eigenen Garn-Theater eine beachtliche Fangemeinde erspielte. Bei „Carnavalito“ wird er, gemeinsam mit Alma Bolivar, Gedichte von Pablo Neruda szenisch vortragen. „Viele südamerikanische Künstler, die heute professionell arbeiten, haben ihre Wurzeln im Underground und auf der Straße“, meint Uriel Benjumea. Genau dahin zurück soll die Reise bei diesem Familienfestival gehen. Eine Leistungsschau will „Carnavalito“ nicht sein. Das paßt zum Hauptort des Geschehens. Die Kastanienallee 77 wurde vor zwei Jahren von Kunststudenten besetzt, und ist seit zweieinhalb Monaten legalisiert. Pünktlich zum Festivalbeginn öffnet hier ein kleiner Veranstaltungsraum, der in Zukunft regelmäßig bespielt werden soll.
Gefeiert wird bei „Carnavalito“ täglich und draußen. Ein kleiner Umzug mit Stelzen, Feuer und Musik eröffnet heute das Festival um 17 Uhr in der Kastanienallee 77, morgen gibt es ebenda Akrobatik und Clownerie. Zirkustheater mit Butho-Elementen führt die zwanzigköpfige Straßentruppe KuLe am Freitag im Hinterhof und am Samstag im Volkspark Weinsbergweg vor. Höhepunkt und Abschluß bildet am Sonntag ein Umzug durch den Prenzelberg. Der Chilene Andrés Pérez, in seiner Heimat der Nachwuchsregiestar und seit dem letztjährigen Überraschungserfolg seiner Mythenbebilderung „Popul Vuh“ auch in Berlin wohlbekannt, wird das Spektakel inszenieren.
Das Indoor-Programm ist genauso bunt: Eine Schneewittchen-Version, in der der tödliche Apfelbiß nicht vom Gift der bösen Schwiegermutter herrührt, erarbeitete Taller-teatral-Regisseur Jaime Mikan für die Aids-Hilfe. Mit dem Stück „Valse Nr. 6“ wird der brasilianische Kolportage-Meister Nelson Rodriguez von Landsleuten vorgestellt. Für die Kleinen spielt das Sandkorntheater am Wochenende zwei Puppenstücke. Außerdem präsentieren sich im Café in der Kulturbrauerei mehrere Initiativen: Das Frauenprojekt S.U.S.I., die Schwulenkneipe Anal und die Lateinamerika-Initiative „Patio“ werden jeweils einen Tag gestalten, Aktionen und Essen inclusive. Das Programm soll zum Mitmachen verführen. Denn ein echter Carnaval, meint Uriel Benjumea, sei schließlich dazu da, die Leute um den Verstand zu bringen. Gerd Hartmann
Heute bis 4.9. im Wawavox, Kastanienallee 77, der KulturBrauerei, Knaack-/Ecke Dimitroffstraße, im Schlot, Kastanienallee 29, alles Prenzelberg, Termine erfragen.
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