Von Leichenbergen auf dem Feld der Ehre

■ Mit seinem Antikriegsroman „Das Menschenschlachthaus“ provozierte der Hamburger Wilhelm Lamszus am 1. September 1912, dem militaristisch gefeierten „Sedantag“, einen Skandal hanseatischer Art Von Kay Dohnke

Der erste September ist schon seit langem ein Tag deutscher Kriegsgeschichte. Vor dem Gedenken an den Beginn des Zweiten Weltkrieges verband sich mit diesem Datum allerdings Jubel über die Schlagkraft des kaiserlichen Heeres in Frankreich – die Nation dachte an Sedan, den Sieg deutscher Truppen über Napoleons Armee im Jahr 1870.

Ganz im Sinne dieser Tradition war in Hamburg auch der 1. September 1912 von Waffenrasseln und Patriotismus geprägt: Flaggen wehten auf den öffentlichen Gebäuden, der Kriegerverband feierte, und stolz zeigten Veteranen ihre ordensgeschmückten Uniformen. Die Hansestadt stand treu zu ihrem Kaiser – die hochgerüsteten und feindseligen Nachbarländer sollten sich unterstehen, das friedliebende Deutschland anzugreifen!

Gänzlich unerwartet wurde in diesem Loblied auf Militarismus und Mannesmut aber ein Störton laut: Im Hamburger Echo, der sozialdemokratischen Tageszeitung, erschien die erste Folge des Romans „Das Menschenschlachthaus“. Schon der Titel ließ keinen Zweifel daran, wie diese „Bilder vom kommenden Krieg“ zu verstehen waren: realistisch und illusionslos schilderte der Verfasser Wilhelm Lamszus das technisierte Massenmorden mit Maschinengewehren und Granatwerfern. Leichenberge auf dem „Feld der Ehre“, der Rock des Kaisers blutbespritzt – so sah das Gesicht des Krieges aus! In acht Teilen druckte das Echo den Text, dann widmete sich das Feuilleton wieder gewöhnlicher Unterhaltungsliteratur.

Doch diese Aktion blieb nicht folgenlos: Über Hamburgs Medienwelt wachte das Auge der Politischen Polizei, und die war auf „Das Menschenschlachthaus“ bereits im August aufmerksam geworden, als es der Hamburger Verlag Alfred Janssen als Broschüre herausgebracht hatte. Ein Exemplar davon war zur Überprüfung an den Ersten Staatsanwalt weitergeleitet worden, der jedoch zu seinem Bedauern darin keine „Aufforderung zum Ungehorsam gegen die Gesetze“ finden konnte. Der vielbeachtete Zeitungsabdruck des Textes erforderte nun aber obrigkeitsstaatliches Handeln. Offener Pazifismus im Blatt der SPD? Jubel über das Buch in anarchistischen Zeitschriften? Diesem Autor mußte doch beizukommen sein. Tatsächlich ließ sich der Hebel anderswo ansetzen: Wilhelm Lamszus stand als kleiner Lehrer in Hamburgs Schuldienst, und da hatten Radikale nichts verloren.

Am 18. September schickte die Polizei ihre aus der Zeitung ausgeschnittenen Erkenntnisse an die Oberschulbehörde. Deren Chef, der Senator Berenberg-Goßler, reagierte prompt: Zwei Tage später flog Lamszus aus dem Dienst – nur um weitere drei Tage später klammheimlich wieder eingestellt zu werden, nachdem man ihm eine reumütige Treueerklärung abgetrotzt hatte. Um den Schaden zu begrenzen, gab sich Berenberg-Goßler damit zufrieden, denn in vorauseilendem Gehorsam erkannte er, daß jede gerichtliche Auseinandersetzung um das Buch nur unnötige Aufmerksamkeit erregen und womöglich dem Pazifismus Sympathien verschaffen müßte. Ein Gespräch mit Lamszus hatte ihn davon überzeugt, daß dieser ein guter Turner sei und das Singen von Kriegsliedern im Unterricht seine Spezialität – Gefahr für die Jugend war hier nicht zu befürchten. Inoffiziell bat der Senator die Chefredakteure der konservativen Zeitungen Hamburgs deshalb um Verschwiegenheit.

Aber der Plan des Senators schlug fehl: Am 2. Oktober traten die nationalkonservativen Hamburger Nachrichten mit einer hetzerischen Titelgeschichte vom „Gemeingefährlichen Jugenderzieher“ eine breite öffentliche Kontroverse um Lamszus' Buch los. Das „Menschenschlachthaus“ sei eine „antimilitaristische Tendenzmache schlimmster Art“, befand der anonyme Leitartikler. Anfangs habe man noch gehofft, die Schulbehörde würde einschreiten „und den Verfasser derartiger Schundliteratur auf irgend eine Weise unschädlich machen“. Am besten wäre es wohl gewesen, geiferte das Blatt, wenn man den Lehrer Lamszus „sofort in eine Heilanstalt gebracht hätte. Seine Schrift ist jedenfalls das Produkt eines durchaus hysterischen Menschen, eine Ausgeburt krankhafter Phantasie, die ihren Nährboden in einer ganz jämmerlichen unmännlichen Angst vor Krieg und Blutvergießen hat.“ So spreche „kein Mann, kein Germane“; Lamszus wolle nur „dem Volke das patriotische Mark aus den Knochen saugen und es mit Abscheu vor der freudigen Hingabe an das Vaterland bis in den Tod erfüllen“.

Doch diese Aktion der Hamburger Nachrichten ging nach hinten los. Während sich das Blatt noch einen Schlagabtausch mit dem Echo lieferte, schrieben bald alle großen Zeitungen Deutschlands, ja sogar in Frankreich und den USA über diese hausgemachte Groteske. Zahlreiche linke Blätter rezensierten das Buch, und in Hamburg wurde „Das Menschenschlachthaus“ zum Renner. Täglich erschienen Werbeanzeigen, der Verlag produzierte eine zweite Auflage, Lamszus mußte öffentlich daraus lesen. Und wer sich schämte, solche Literatur im Laden zu kaufen, konnte den umstrittenen Text gegen Einsendung von 1.05 Mark vom Buch- und Zeitschriftenhändler Fr. Meyer diskret erhalten: „Versendung geschieht als verschlossener Brief frei Haus.“ 1913 waren 50.000 Exemplare gedruckt, Übersetzungen erschienen in England und Amerika, in Dänemark und Frankreich.

Die Politische Polizei bespitzelte Lamszus auch weiterhin – nur unternehmen konnte sie nichts gegen den aufrechten Lehrer, der den ganzen Rummel scheute und sich lieber wieder auf seine Reformpädagogik konzentriert hätte. Während die preußischen Militärbehörden die Soldaten vor dem „antimilitaristischen Machwerk gefährlichster Art“ warnten und es in den Kasernen konfiszierten, ja sogar der Kronprinz beim Hamburger Senat nachfragte, ob denn in dieser Sache wirklich nichts auszurichten sei, bereitete das Deutsche Reich zielstrebig den nächsten Krieg vor. Und erst als Lamszus' Vision vom Massensterben in den Schützengräben längst Wirklichkeit geworden war, verboten die Behörden im März 1915 „Das Menschenschlachthaus“ und ließen es aus den Läden entfernen.

Als eine der ersten Veröffentlichungen nach dem Krieg brachte der Hamburger Pfadweiser-Verlag im Frühjahr 1919 Lamszus' Buch wieder auf den Markt. Bald erschien die Fortsetzung „Das Irrenhaus“ mit einem Vorwort Carl von Ossietzkys. Noch eine Zeitlang hielt der Erfolg beider Werke an, auch wenn sich nach den realen Erfahrungen des Ersten Weltkrieges die ehemalige Schockwirkung von Lamszus' Buch nicht mehr einstellte und die künstlerische Qualität nüchterner eingeschätzt wurde. 1933 erhielt der Verfasser Schreibverbot und wurde vorzeitig in den Ruhestand geschickt. „Das Menschenschlachthaus“ verschwand für lange Jahre aus den Bibliotheken und bis heute weitgehend aus dem literarischen Bewußtsein.