Keine Neugierde auf die von "drüben"

■ Entwicklungsstudie zu Berliner Jugendlichen: weniger gewaltbereit als gemeinhin angenommen / Aber Mauer in den Köpfen wächst / Selbstbewußtsein der Ostberliner wächst, das der Westberliner stagniert

Ost- und Westberliner Jugendliche sind weniger gewaltbereit, als ihnen gemeinhin unterstellt wird. Das hat eine Entwicklungsstudie des Instituts für Allgemeine und Vergleichende Erziehungswissenschaften der Freien Universität und des Zentrums für Europäische Bildungsforschung ergeben. Danach lehnen zwischen 70 und 80 Prozent der befragten Schüler der Klassenstufen 7 bis 10 Gewalt als Mittel der Konfliktlösung strikt ab. Die Untersuchung, die auf regelmäßigen Befragungen von jeweils 600 Schülern aus Lichtenberg und Charlottenburg zwischen 1990 und 1993 basiert, hat ebenfalls gezeigt, daß diese Zahlen seit 1990 stabil sind, wie der Leiter des Projekts, Professor Hans Merkens, sagte.

Die Angst, Opfer gewalttätiger Auseinandersetzungen zu werden, ist hingegen ausgeprägt. Immerhin rüsten sich dreißig Prozent der Schüler mit „Verteidigungshandwerkszeug“ wie Reizgasspray aus. Täglich in der Schultasche haben es jedoch nur fünf bis sechs Prozent. Außerdem habe die Studie ergeben, daß die Tendenz zu extremistischen und radikalen Einstellungen abnehmend sei. Dabei wäre jedoch auffällig, daß sich derartige Einstellungen in Westberlin „manifester und persönlichkeitsbezogener“ ausbilden als im Osten. Hier scheine es vor allem bessere Einwirkungsmöglichkeiten durch die Schule zu geben.

Als die Wissenschaftler die Jugendlichen nach „rechten“ Einstellungen fragten, haben rund fünf Prozent den Wandspruch „Führer befiehl, wir folgen Dir“ als richtig und positiv erachtet. Demgegenüber hielten rund 78 Prozent der Befragten die Aussage „Nazis raus“ für wichtig.

Insgesamt haben die Wissenschaftler festgestellt, daß es viele Ähnlichkeiten bei den Entwicklungen in Ost und West gibt. Das lege die These nahe, so Professor Merkens, daß Berlin in vielerlei Hinsicht einen ähnlichen Hintergrund für die Entwicklung der Schuljugendlichen bietet. Auffallend sei jedoch, das hätten die Selbsteinschätzungen der Schüler gezeigt, daß das Selbstbewußtsein der Ostberliner wachse, das der Westberliner hingegen stagniere. Gleichzeitig nehme die „Mauer in den Köpfen“ zu. Die Bereitschaft, den jeweils anderen „wirklich“ kennenzulernen, sei gering und habe auch in den vergangenen drei Jahren nicht zugenommen. Die Wissenschaftler plädieren deshalb für mehr Unterricht zu den Problemen der deutschen Vereinigung, um sowohl das im Osten verbreitete Klischee vom „Plattmachen“ als auch die im Westen verbreitete Vorstellung des ständigen „Almosengebens“ auszuräumen.

Gleich stehen Ost- und Westberliner Schüler zu ihrer Heimatstadt, die sie nicht besonders attraktiv finden: Jeweils um die fünfzig Prozent würden ihr gern den Rücken kehren, um woanders zu leben, da sie Berlin als unsaubere „Betonwüste“ empfinden.

Insgesamt klingt das Fazit der Wissenschaftler eher wenig optimistisch: Das allgemeine gesellschaftliche Klima scheine „wenig geeignet“, den Vereinigungsprozeß voranzutreiben“. Es gebe in beiden Teilen der Stadt eine wachsende Zahl von Menschen, „die sich als Verlierer der Einheit betrachten“. Und diese würden gerne „den jeweils anderen die Schuld“ daran zuschieben und nicht „fragen, ob die eigenen Vorurteile stimmen“. Claudia Pietsch/ADN