Behinderte sollen leichter kündbar werden

■ Innenverwaltung läßt neues Verfahren testen / Sozialverwaltung und Betroffene üben scharfe Kritik / Schon jetzt erfüllen nur 75 Prozent der Arbeitgeber Quote

Behinderten soll künftig schneller gekündigt werden können. Das sieht ein neues Verfahren vor, das auf Betreiben der Innenverwaltung ab dieser Woche von der für Schwerbeschädigte zuständigen Hauptfürsorgestelle getestet werden soll. Demzufolge sollen die Mitarbeiter der Behörde, ohne deren Zustimmung ein Behinderter nicht entlassen werden darf, bei Einverständnis des Behinderten direkt nach einem Gespräch mit allen Beteiligten ihr Okay geben; bisher hatte die Hauptfürsorgestelle vier Wochen Zeit dazu.

Hintergrund für diese Neuregelung ist nach Auskunft der Sozialverwaltung das Ziel der Innenverwaltung, Personal im öffentlichen Dienst einzusparen. Der Sprecher der Innenverwaltung, Norbert Schmidt, spricht dagegen von einer „Optimierung von Arbeitsabläufen“. Außerdem sei die Entscheidung für das Pilotprojekt von einem verwaltungsübergreifenden Prüfungsausschuß getroffen worden, in dem die Innenverwaltung allerdings den Vorsitz hätte.

Die Verfahrensänderung stößt bei den Beteiligten aber auf erheblichen Widerspruch. „Da werden die Schwerbeschädigten über den Tisch gezogen“, sagt Michael Wiedeburg, Behinderten-Vertrauensmann bei der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV). Er fürchtet, daß viele Schwerbeschädigte vorschnell ihre Einwilligung zur Kündigung geben könnten. Schon jetzt würde in solchen Gesprächen von den Vertretern der Arbeitgeber ein „enormer Druck“ auf die Behinderten ausgeübt: „Die werden in die Mangel genommen.“ Die Arbeitgeber würden meist moralisch-ökonomisch argumentieren und mit Hinweis auf zurückgehende Umsatzzahlen den Schwerbeschädigten „total überfordern“, so Wiedeburg.

Gibt ein derartig bearbeiteter Arbeitnehmer dann die Einwilligung zur Kündigung, steht künftig einer sofortigen Zustimmung der Hauptfürsorgestelle und damit der Entlassung nichts mehr im Wege. Argumenten von Arbeitgeberseite, daß sich die Chancen der über 362.000 Schwerbeschädigten auf dem Arbeitsmarkt verbessern, wenn sie leichter gekündigt werden können, kann Wiedeburg nicht folgen: „Das hören wir immer wieder, aber das ist Quatsch. Schon jetzt kann man Behinderte aus betriebsbedingten Gründen leicht entlassen.“ Die Neuregelung würde die Situation in Berlin, wo schon jetzt 75 Prozent aller Arbeitgeber die gesetzlich vorgegebene Beschäftigungsquote von 6 Prozent nicht erfüllen, deshalb nur noch weiter verschlechtern.

Das glaubt auch die übergeordnete Behörde der Hauptfürsorgestelle, die Sozialverwaltung. Sie hatte schon im Vorfeld die Änderung als „realitätsfern“ beurteilt. „Hier verkommt der Kündigungsschutz zu einer Formalität“, so Sprecherin Rita Hermanns. Daß mit dem Schnellverfahren tatsächlich Personal im öffentlichen Dienst eingespart werden kann, glaubt Hermanns nicht: „Dann werden viele Betroffene im nachhinein Widerspruch einlegen, was dann die Gerichte zusätzlich belasten würde.“ Von einer Zunahme der Widerspüche gehe auch die Hauptfürsorgestelle aus, so der zuständige Referatsleiter Dieter Heidmann. Der neuen Vorgehensweise steht Heidmann auch aus sozialen Gründen skeptisch gegenüber: „Den Behinderten wird die Bedenkzeit genommen“. Die Mitarbeiter der Hauptfürsorgestelle hätten mit „Verständnislosigkeit“ auf den Vorstoß ihres Kollegen reagiert, weil damit der Kündigungsschutz „für alle sichtbar auf ein Formblatt reduziert“ würde.

Fünf der 26 Außendienstmitarbeiter werden das Schnellverfahren bis voraussichtlich Ende diesen Jahres in der Praxis testen. Dann will die Sozialverwaltung die Erkenntnisse auswerten. Doch selbst bei einem negativen Ergebnis wird der Vorschlag nicht endgültig vom Tisch sein, so Sprecherin Hermann: „Letztendlich entscheidet die Innenverwaltung in allen Personalfragen.“ Anne-Kathrin Schulz