Als Besatzer mußten die Russen nicht gehen

■ Politisch blieb der Abschied distanziert, doch die Soldaten werden von den Sympathien vieler BerlinerInnen begleitet

„Es ist gut, daß wir gehen, es ist höchste Zeit dafür. Doch es gibt eine Spur von Bitterkeit in der stolzen Stimmung der Feier“, schrieb die russische Zeitung Rossiiskaja Gaseta vorgestern: Verglichen mit dem Abschied der Westmächte, gleiche der Abzug der russischen Soldaten eher „einer Flucht“. Und die Komsomolskaja Prawda sprach von einem „zweitklassigen Abschied“.

In der Tat: Der Abschied war ehrenvoll, doch die Distanz blieb spürbar bis zum Schluß – zumindest bei den politisch Verantwortlichen Berlins. Auf taube Ohren stießen beim Regierenden Bürgermeister Diepgen die pathetischen Worte von der „ewigen Freundschaft“, die der Oberbefehlshaber der abziehenden russischen Westgruppe, Matwej Burlakow, in den letzten Wochen beschwor.

Zwar bemühte sich der Senat, die russischen Soldaten bei dem monatelangen Abschieds-Marathon mit Militärparaden und Volksfesten nicht zu brüskieren. Und Diepgen lobte die „bleibenden Verdienste“ der Sowjets bei der Vertreibung des Hitler-Faschismus, doch er machte nie einen Hehl daraus, daß sein Herz für die West-Alliierten schlägt: Schließlich seien sie es gewesen, die Berlin vor „kommunistischer Bedrohung und Nötigung“ bewahrten.

Zumindest im Ostteil der Hauptstadt kann Diepgen mit seinem Geschichtsbild kaum Lorbeeren ernten. Zu Tausenden strömten die BerlinerInnen in den letzten Wochen zu Kulturveranstaltungen und Festlichkeiten, um Abschied mit den Soldaten zu feiern. Insbesondere die Menschen aus dem Ostteil denken nicht ohne Sympathie an die ehemaligen Besatzer zurück.

Die Sowjets seien schließlich die ersten Befreier in Berlin gewesen, meinte ein Ostberliner Rentner: „Ihre Soldaten sind zu Tausenden gefallen, und die Westmächte ernteten den Ruhm.“ Viele üben Kritik daran, daß die Russen ihre militärische Abschiedsparade vor einigen Wochen im abgelegenen Karlshorst durchführen mußten, während die West-Alliierten ihr Militär-Spektakel auf der Straße des 17. Juni abhalten durften. Schließlich, so ein 32jähriger Arbeiter, „haben nicht nur die West-Alliierten den Krieg gewonnen“.

Doch die freundschaftlichen Gefühle entstanden erst im letzten Augenblick. Denn zu DDR-Zeiten gab es kaum Möglichkeiten für persönliche Kontakte zu den sowjetischen Soldaten. Kurz vor dem Abschied aber kümmern sich plötzlich viele um die Heimkehrer. So sammelt beispielsweise die „Interessengemeinschaft Abschiedsgeschenke“ Spenden für nützliche Präsente an die Soldaten.

Nicht verwunderlich, daß der Abzug der GUS-Truppen noch einmal West- und Ostdeutsche spaltet. Nach einer Umfrage für das ARD-Politogramm Skala sehen 77 Prozent der Westdeutschen in den abziehenden Soldaten Besatzer oder Unterdrücker. In den neuen Ländern wird diese Einschätzung nur von 36 Prozent der Menschen geteilt. Hier überwiegt mit 54 Prozent das Bild des Befreiers und Partners (Westdeutschland: 18 Prozent). taz / AP / AFP