■ Lew Kopelew zum Abzug der russischen Truppen
: Gottes ist Orient wie Okzident

taz: Lieber Lew Kopelew, was bewegt dich beim Abzug der sowjetischen Truppen? Ist es nur ein Ende oder auch ein Anfang?

Lew Kopelew: Es gibt einfache, bittere Fakten. Die Enkel der Rotarmisten, von denen mehr als hunderttausend vor und in Berlin fielen, durften nicht zusammen mit den Enkeln der anderen Alliierten feiern. Sie wurden auch nicht zu den Versöhnungsfeiern in die Normandie eingeladen. Zu deiner Frage, ob der Abzug bloß den Schlußstrich zieht unter einen längst vergangenen Krieg, nach dessen Ende die sowjetischen Soldaten viel zu lange hiergeblieben sind: Ein alter Kamerad von mir, Professor Drabkin, sagte, das schlimmste an diesem Abschied ist, daß er zu spät kommt, daß wir 50 Jahre darauf warten mußten. Wird mit dem Abzugsdatum ein neuer Anfang im Zusammenleben unserer Völker gemacht? Wir gehören zusammen.

Goethe hat es schon vor 200 Jahren so ausgedrückt: Gottes ist der Orient, Gottes ist der Okzident. Orient und Okzident sind nicht mehr zu trennen. Wenn Politiker und Politikaster in verschiedenen Ländern, leider auch in Deutschland, spekulieren, daß Rußland nicht zu Europa gehöre, daß es ein Halb- oder Viertelasiatischer Staat sei, dann erinnert mich das an die Worte eines klugen und bösen Amerikaners, der vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges sagte, daß Deutsche und Russen ruhig einander auffressen sollten.

Ende oder neuer Anfang in den Beziehungen, das ist wirklich die Frage. Es gibt ja auch gute Beispiele aus der Vergangenheit. Ich erinnere nur an die großartige Rußlandhilfe in den letzten Jahren. Allein in Köln sind in zwei oder zweieinhalb Monaten vier bis viereinhalb Millionen Mark zusammengekommen. Nicht so sehr durch Stiftung oder große Geldgeber, sondern vor allem durch die Zuwendungen einfacher Menschen. Noch früher konnte ich in Köln die Solidaritätsaktionen für Polen erleben. Manchmal überlebte ein Dutzend polnischer Familien Dank der Spenden nur einer der Kölner Gemeinden.

Das war alles sehr schön, aber was man darüber hinaus braucht, ist Zusammenarbeit, ist nicht ein Nebeneinander, sondern ein Miteinander. Ohne diese Zusammenarbeit wird Rußland aus schwerer Krankheit nicht genesen. Und hier geht es um die schwere Krankheit eines Landes, in dem immer noch Tausende von Atomraketen schußbereit stehen. In einer Moskauer Zeitung konnte ich vor zwei Tagen lesen, daß Rußland in diesem Jahr bereits den sechzehnten militärischen Satelliten ins Weltall befördert hat. Das scheint zu funktionieren, auch wenn vieles andere nicht geht.

Auch die ökologische Krise kann kein Staat alleine lösen, nicht einmal der mächtigste. Schon gar nicht das verarmte Rußland. Wir haben den Zustand, daß sich viele Bereiche der Technik und gerade die Medientechnik bereits auf dem Niveau des 21. Jahrhunderts befinden, während das Bewußtsein der meisten Menschen im letzten Drittel unseres Jahrhunderts stehengeblieben ist. Technisch sind die Verbrecher und Abenteurer, die Kriege anzetteln, besser ausgerüstet als die Kräfte, die Ordnung schaffen möchten. Es entsteht schon eine Verbrecherinternationale so wie auch eine Chauvinisten- und Faschisteninternationale. Der russische Faschist Schirinowski wird vom deutschen Faschisten Frey nach Deutschland eingeladen. Selbst wenn er kein Visum erhält, werden andere seiner Gesinnungsgenossen fahren. Es gibt ja Dutzende davon. Was uns alle bewegen müßte, ist die Notwendigkeit einer neuen Zusammenarbeit aller Menschen guten Willens. Kein Beschluß der Regierung, keine Gesetzgebung kann diesen Willen zur Zusammenarbeit und zur Gemeinsamkeit ersetzen.

Wenn ich an meine Situation in Köln denke, wird mir bewußt, wie gründlich eine frühere Erbfeindschaft überwunden werden kann. Zu den Franzosen gibt es heute eine völlig andere Beziehung, und das nach hundertjähriger oder anderthalbhundertjähriger Erbfeindschaft und Gegnerschaft in zwei Weltkriegen.

Gerade in der früheren DDR hat der Aufenthalt der sowjetischen Truppen viele ganz unterschiedliche Spuren hinterlassen. Es gibt das Negativklischee, das die russischen Soldaten nur in der Gestalt von Plünderern und Vergewaltigern wahrnimmt. Aber es gab in dieser Zeit auch Liebe, die verbotene Liebe zwischen russischen Soldaten, Offizieren und deutschen Frauen. Ich bin selbst das Kind einer solchen Liebe und weiß, wie schwer es war, damit umzugehen. Wie sollte man nach deiner Meinung heute dazu stehen?

Gut, daß du diese Frage stellst. Heute morgen hat mich eine Regisseurin angerufen, die einen Film über einen russischen Offizier machen will, von dem ich in den letzten Tagen sprach. Es war ein Freund von mir, der in den ersten Nachkriegsjahren als Besatzungsoffizier bei der Täglichen Rundschau arbeitete. Er hatte eine deutsche Frau liebgewonnen, und sie ihn auch. Beide wollten heiraten. Der Offizier stellte ein offizielles Heiratsgesuch. 1947 war der berüchtigte Stalinbefehl herausgekommen, nachdem nicht nur Liebesbeziehungen, sondern auch die Ehen mit Ausländern kriminell waren. Der Offizier wurde zu sieben Jahren Lagerhaft verurteilt, weil er eine Deutsche heiraten wollte. Er blieb nur deshalb nicht die ganze Zeit im Lager, weil Stalin früher verreckte und die Amnestie kam. Von all dem gibt es Spuren in der Literatur. Ein sehr guter Freund von mir, der nicht mehr lebt, Samolow, hat ein Poem geschrieben über einen Gefangenenzug. In einem Kapitel dieses Poems wird ein Oberst beschrieben, der aus Liebe zu einer deutschen Frau alles aufs Spiel gesetzt hat und als Gefangener in die Heimat zurücktransportiert wird.

Wie sollten offen über all das sprechen und auf die Kraft der Aufklärung vertrauen. Ein besseres Wort als das altmodische Wort Aufklärung kann ich nicht finden. Wenn wir auf diesen Anspruch verzichten, werden wir alle zu Lemmingen, die sich gemeinsam ins Meer stürzen.

In der Zeit der tiefsten Solidarność-Illegalität hast du einen Brief an Adam Michnik geschrieben, in dem du Freundschaft und Solidarität ausdrückst, aber gleichzeitig Kritik übst. Du fragst, ob es richtig ist, daß bei allen Leiden und Wunden, die die russische Großmacht dem polnischen Volk zufügte, Rußland nur als Ort der Finsternis und Barbarei gesehen wird. Und du verweist auf Rußland als Teil Europas und auf die große Bedeutung der russischen Kultur. Wie kann Rußland heute seine europäische Rolle als Großmacht bestimmen, wie kann es mit den berechtigten Ängsten und Neurosen seiner kleineren Nachbarn umgehen?

Ich habe immer gesagt, Rußland war, ist und bleibt eine Großmacht, aber eine Großmacht des Geistes. Nimm doch nur die Arbeit der russischen Kulturoffiziere in Deutschland in den schwersten Jahren des Nachkriegs. Sie sind das beste Beispiel dafür, daß Staatspolitik, staatsbeherrschende Ideologie auf der einen Seite und nationale Kultur sowie das Verhältnis russischer Intellektueller zu anderen Völkern ganz verschiedene Dinge sind. Diese Kulturoffiziere haben sich um die Wiedergeburt der deutschen Kultur große Verdienste erworben und einen wirklichen Ausgleich gesucht. Eine Reihe von ihnen wurde später selbst verhaftet.

Leid tut mir vor allem, wenn ich sehe, wie man heute die jungen russischen Soldaten für die Verbrechen Stalins und eines Teils ihrer Großväter verantwortlich macht, die plünderten und vergewaltigten. Diese Soldaten haben wirklich den „Segen der späten Geburt“. Sie sollten nicht für die Sünden ihrer Vorväter bezahlen müssen.

Laß mich noch eine Geschichte aus den Tagen des Zweiten Weltkrieges erzählen, die für mich zu diesen Fragen gehört und bei der ich immer noch nach Spuren des Menschen suche, von dem sie handelt. Es geht um Hans aus Berlin, mehr als diesen Namen weiß ich nicht. Als ich nach dem Krieg im Gefängnis saß, war in meiner Zelle auch ein polnischer Offizier, Tadeusz Rozewski, ein Teilnehmer des Warschauer Aufstandes. Mit tränenerstickter Stimme erzählte er mir folgende Geschichte: In den ersten Tagen des Warschauer Aufstandes stellte sich seinem Kampfverband ein jüngerer deutscher Soldat als Überläufer – Hans aus Berlin. Zunächst waren die Polen mißtrauisch. Hans erzählte ihnen von seinem Vater, der Kommunist war, und seinem eigenen Haß auf den Krieg. In diesen Aufstandstagen verwendeten die Deutschen zur Bekämpfung von Barrikaden elektrisch betriebene Minen, die sich wie kleine Tanks bewegten. Hans kannte das Geheimnis dieser „laufenden Minen“ und zeigte den Polen, wie man sie unschädlich machen konnte.

Als in den letzten Aufstandstagen alle Kämpfer nur noch in den Kanälen saßen und der Befehl zur Kapitulation kam, trieb die Polen die bange Frage um: Was wird mit Hans? Der beruhigte seine polnischen Freunde und sagte, daß er eine Lösung für sich wisse. Mit zwei Handgranaten zog er sich in den hintersten Teil des Kanaltunnels zurück und ließ sie in seinem Körper detonieren. Ich wäre froh, wenn es mir gelänge, auf Menschen zu treffen, die ihn kannten. Interview: Wolfgang Templin