■ Im Wortlaut: Boris Jelzins und Helmut Kohls Reden
: Boris Jelzin: „Die Nachkriegszeit ist vorbei“

Die Rede des russischen Präsidenten Boris Jelzin:

„Der heutige Tag, der 31. August 1994, wird zweifelsohne in die Geschichte sowohl Rußlands als auch Deutschlands und ganz Europas eingehen. Der letzte russische Soldat verläßt den deutschen Boden. Vor einem halben Jahrhundert blieb der Siegessoldat hier. Aber nicht, um den fremden Boden zu versklaven und zu erobern – man mußte die Zerstörung der Kriegsmaschinerie des Dritten Reiches zur Vollendung bringen.

Infolge des längsten und blutigsten Krieges wurde Europa vom Hitlerismus gerettet. Die Welt wich ihrer Versklavung aus. Und dies war die größte und bedeutendste gute Sache, die im 20. Jahrhundert vollbracht wurde. Wer auch und auf welche Weise immer versucht hätte, den Verlauf und die Ergebnisse des Krieges zu bewerten, die geschichtliche Wahrheit bleibt unerbittlich. Sie verlangt von uns, die Tatsache festzuhalten, daß alle Länder der Anti-Hitler-Koalition ihren Beitrag zum Sieg gleistet haben. (...)

Hitler überließ dem deutschen Volk ein schreckliches Erbe – Millionen Tote und Invalide, Zusammenbruch der Wirtschaft, eine völlig desorganisierte Verwaltung, Menschen, die den Glauben und die Hoffnung verloren hatten. (...) Die Niederlage zog die Spaltung des deutschen Landes nach sich. Es wurde beim lebendigen Leibe mit Stacheldraht und Minenfeldern zerschnitten.

Erst 1990 haben sich zwei deutsche Staaten vereinigt. (...) Und Rußland freut sich darüber zusammen mit Deutschland! Heute kehren russische Soldaten mit dem Glauben nach Hause zurück, daß für Rußland nie mehr eine militärische Bedrohung vom deutschen Boden ausgehen wird.

Mehrere Generationen unserer Soldaten dienten in der Westgruppe der Truppen. Sie standen an der Scheidelinie, die die Welt in Ost und West und Europa in zwei feindselige politische, ideologische und militärische Lager teilte. Das war eine schwierige Ausübung der Soldatenpflicht um des Friedens willens auf dem Kontinent. (...)

Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Freunde! Die Nachkriegszeit in den russisch-deutschen Beziehungen ist vorbei. Sie wird ersetzt durch die Periode der Freundschaft und Zusammenarbeit. (...)

Wir sind in ewiger Schuld bei den Gefallenen. Und das beste Denkmal für sie wird ein würdiges Leben der jetzigen und der künftigen Generationen, des russischen und des deutschen Volkes sein. Ich danke Ihnen.“

Bundeskanzler Helmut Kohls Rede:

Der Tag, an dem wir heute hier in Berlin zusammenkommen, ragt unter den denkwürdigen Ereignissen als ein Schlußpunkt der Nachkriegsgeschichte Europas heraus. Fast 50 Jahre, nachdem die sowjetische Armee das Gebiet des damaligen Deutschen Reiches betreten hat, verlassen russische Soldaten heute endgültig unser Land. (...)

Wir gewinnen die Zukunft aber nur, wenn wir die Lehren aus den dunklen Kapiteln der Vergangenheit nicht vergessen. Wahrhaftigkeit ist immer das Fundament dauerhafter Freundschaft. Die unselige Entwicklung in diesem Jahrhundert war das Ergebnis von übersteigertem Nationalismus und Vormachtstreben, von Rassenwahn und Klassenhaß.

Totalitäre Diktaturen und menschenverachtende Ideologien in unseren beiden Ländern haben millionenfaches Unglück über die Menschen gebracht. Die nationalsozialistischen Machthaber in Deutschland verzerrten und erniedrigten das Bild Rußlands. Der Pakt der Diktatoren Hitler und Stalin legte die letzte Schranke vor dem Krieg nieder, den die NS-Gewaltherrschaft kurz darauf entfesselte.

Wir vergessen den deutschen Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 nicht. Von Deutschen und in deutschem Namen ist dem russischen Volk Furchtbares angetan worden. Wir verneigen uns vor den vielen Millionen Toten, die der entsetzliche Krieg Ihr Land kostete. Wir wollen und dürfen dies alles nicht vergessen – und ebensowenig dürfen wir vergessen, was später Deutschen in der Revanche angetan wurde. Dies alles darf weder verdrängt noch aufgerechnet werden, aber wir wollen daraus lernen. Wir Deutsche mußten die schmerzliche Teilung unseres Vaterlandes erleben. (...)

Erst die vor knapp zehn Jahren in der damaligen Sowjetunion eingeleitete Politik des Wandels und der Offenheit beendete letztlich die Anomalie im Herzen Europas. Als am 9. November 1989 die Mauer fiel, entschied die sowjetische Führung, sich dem nicht entgegenzustellen. Ohne ihre Mitwirkung in den folgenden Monaten wäre die deutsche Einheit nicht zustandegekommen. Wir Deutsche werden uns daran stets dankbar erinnern.

Deutsche und Russen stehen erst am Anfang einer guten Zusammenarbeit. Wir wollen unsere neue Freundschaft und Partnerschaft festigen und weiter ausbauen. Sicherheit und Wohlergehen in Europa kann nicht ohne, sondern nur in engem Zusammenwirken mit Rußland gewährleistet werden. (...)