Die Leica im Schatten des Ehrenmals

Am Treptower Ehrenmal in Berlin verabschiedeten Kanzler Kohl und Präsident Jelzin die russischen Truppen aus Deutschland / Ein Fotoreporter erinnert sich  ■ Aus Berlin Severin Weiland

Die Leitz-Kamera baumelt vor der Brust. So, als wollte er sich vergewissern, daß sie noch funktionstüchtig ist, hantiert Jewgenij Chaldeij nervös an dem Auslöser herum. Der 77jährige Mann aus Moskau ist ein Veteran des „Großen Vaterländischen Krieges“, wie noch heute der Kampf der ehemaligen Sowjetunion gegen Deutschland in seiner Heimat genannt wird. Die Kamera, sie hat ihn ein Leben lang begleitet, bis hierhin zum Treptower Ehrenmal in Ostberlin. 1939 für den damals horrenden Preis von 1.000 Rubel gekauft, war sie Chaldeij Handwerkszeug während des ganzen Krieges, von Murmansk über Südosteuropa bis nach Berlin. Dort, am 2. Mai 1945, schoß der damalige Fotograf in Diensten der Roten Armee jenes mittlerweile weltberühmte Bild des jungen Sowjetsoldaten, der auf dem Reichstag die Flagge mit Hammer und Sichel hißt.

Die Kamera, blank geputzt, ist auch an diesem Mittwoch mittag beim Treptower Ehrenmal in Ostberlin wieder dabei. Dort, wo rund fünftausend Soldaten der früheren Roten Armee unter der Erde liegen, bewacht von einem 13 Meter hohen Bronzesoldat, verabschieden an diesem sonnigen Augusttag Boris Jelzin und Helmut Kohl die letzten russischen Truppen aus Deutschland.

Während unten, im Schatten der weißen Blöcke mit den noch immer in Gold gehaltenen Zitaten von Josef Stalin die Soldaten der russischen Ehrenformation auf die beiden Politiker warten, wird Jewgenij Chaldeij auf der Pressetribüne zur Hauptattraktion. Ein Kamerateam hat ihn ausgemacht. Immer wieder muß er den deutschen, amerikanischen, ja chinesischen Journalisten eine Frage beantworten: Wie er sich, der zwei Orden aus dem Krieg am Revers seines Jackets trägt, denn nun fühle? Chaldeij, dem ein russischer Korrespondent einer japanischen Zeitung als Übersetzer zur Seite springt, fällt die Antwort sichtlich schwer. Ein wenig ratlos blickt er hinter seinen dicken Brillengläsern die Reporter an. Fast fünfzig Jahre seien die russischen Soldaten in Deutschland gewesen, da gebe es viele Erinnerungen.

Chaldeij ist kein Mann der abstrakten Erklärungen, mit der die Medienwelt gefüttert werden will. Statt dessen erzählt er von den Tagen nach 1945, als die sowjetischen Truppen bei ihrer Rückkehr von den Frauen auf den Bahnhöfen nach ihren Söhnen und Männern gefragt wurden. Da habe es viele glückliche, aber es habe auch viele traurige Gesichter gegeben. Und dann sagt Chaldeij endlich, was die Reporter eine griffige Formulierung nennen: „Ich fühle eine gewisse Nostalgie.“

Als der russische Präsident Boris Jelzin kurz nach ein Uhr seine Rede beginnt, ist sie in erster Linie an solche Männer wie Chaldeij adressiert. Der erste Satz gilt den „lieben Veteranen“ des „Großen Vaterländischen Krieges“, erst dann folgen Grußworte an die Soldaten und Offiziere der heutigen Armee. Auf dieser Anlage, die im Mai 1949 von den Sowjets errichtet und nach dem deutsch-sowjetischen Nachbarschaftsvertrag an die Bundesrepublik fiel, spricht Jelzin für die Landsleute daheim. Während Jelzin kurz zuvor im Schauspielhaus am Gendarmenmarkt in die Zukunft geblickt hat, hält er nun Rückschau. Es sind klare Worte, die fallen. Wo Kohl wenig später an „unsere“ gefallenen Brüder, Väter und Mütter erinnert, sind Jelzins Worte nicht dazu angetan, die Unterschiede von damals zu verwischen. Die deutsche Staatsgewalt habe damals Raub und Genozid gebracht. So hätten denn die russischen Soldaten nur die Wahl zwischen „Leben und einem Krematorium“ im Konzentrationslager gehabt. Auch die heimkehrenden Truppen, die in eine ungewisse Zukunft gehen, werden milde gestimmt. Jelzin lobt die militärischen Leistungen der sowjetischen Offiziere im Zweiten Weltkrieg, allen voran von Marschall Schukow, dem Eroberer und Befreier von Berlin.

Helmut Kohl hält sich weitaus knapper. „Ihren gefallenen Kameraden werden wir ein ehrendes Andenken bewahren“, erklärt Kohl. Was er nicht sagt: Das Treptower Ehrenmal und alle anderen sowjetischen Friedhöfe und Gedenkstätten verfallen. Allein für die drei Ehrenmäler in Berlin wurden für 1994/95 6,2 Millionen Mark beim Bund beantragt. Bis heute wartet Berlin auf diese Gelder.

Die Zeremonie in Treptow war ganz auf Versöhnung ausgerichtet. Zum erstenmal marschierten Bundeswehrsoldaten mit auf: Am Anfang der Zermonie standen sich ein Teil der deutschen und russischen Soldaten noch gegenüber. Zum Schluß bildeten sie eine Linie.

Am Ende wird Jewgenij Chaldeij wieder nach dem gefragt, was er so wenig beantworten konnte wie zu Beginn: nach seinen Gefühlen. „Es war eine schöne Parade“, sagte er und ging.