Seine Welt: ein Feld

Der Friedhof als Museum: Historische Friedhöfe und Grabmäler in Berlin – eine Stattbuch-Publikation, die ein Klassiker werden kann  ■ Von Jürgen Karwelat

Tod und Sterben sind in unserer Gesellschaft weitgehend tabuisiert. Warum sich also mit Friedhöfen beschäftigen? Heinz Knobloch hat einmal die Antwort gegeben: „Friedhöfe sind aufgeschlagene Geschichtsbücher“.

Mit einem Buch von Klaus Hammer können wir jetzt ein paar Seiten mehr in der Geschichte lesen. Über 140 Friedhöfe und andere Begräbnisstätten werden darin besprochen, mehr als 1.700 Personen und etwa 300 Künstler, Baumeister, Architekten und Kunsthandwerker werden genannt. Nach zahlreichen Veröffentlichungen zu einzelnen Friedhöfen hat der Autor damit eine anregende Zusammenfassung der Berliner Friedhofsliteratur vorgelegt.

Artig beginnt das Buch im Bezirk Mitte und dort mit der Gruftkirche, wo die Sarkophage der Hohenzollern stehen. Wer für die toten Herrscher und deren Frauen nichts übrig hat, der kann im Buch auch reichlich Stoff zu den „normal Sterblichen“ finden. Lange Kapitel gibt es zu den Kreuzberger Friedhöfen Vor dem Halleschen Tor und zum Zentralfriedhof Friedrichsfelde mit der Gedenkstätte der Sozialisten.

Manche Funde überraschen. Da ist beispielsweise der Friedhof Grunewald-Forst, im Jagen 135, der im Volksmund „Selbstmörderfriedhof“ heißt, obwohl dies wohl nur auf einige der dort Beerdigten zutrifft. Neben dem Grabstättenforscher Willi Wohlberedt (1878–1950), der mit seinem vierbändigen Nachschlagewerk (insgesamt 5.240 Namen!) den bisherigen Klassiker der Berliner Gräberliteratur geschrieben hat, finden wir auf dem Friedhof auch Nico. Eigentlich hieß sie Christa Pfäffgen (1938–1988), konnte nicht singen, war Freundin von Andy Warhol und trällerte deshalb auf einigen Alben der „Velvet Underground“, der von Warhol geförderten Underground-Band. Nun liegt Nico im Schatten hoher Bäume im Grunewald.

„Da wo Chamottefabriken stehn / Motorgebrumm- / da kannst du einen Friedhof sehn / mit Mauern drum. / Jedweder hat hier seine Welt: / ein Feld. / Und so ein Feld heißt irgendwie: / O oder I... / Sie kamen hierher aus den Betten,/ aus Kellern, Wagen und Toiletten, / und manche aus der Charité / nach Weißensee.“ Das schrieb Theobald Tiger alias Kurt Tucholsky 1925 über den wohl größten jüdischen Friedhof Europas, den Friedhof Weißensee mit mehr als 115.000 Toten. Auch die Eltern von Tucholsky sind hier zu finden – in Feld T. Doch die Mutter, Doris Tuchowlsy, hat hier nur ein Scheingrab. 1943 wurde die 73jährige nach Theresienstadt deportiert. Dort starb sie.

Der Spaziergang über das weitläufige Areal des Friedhofs ist eine Wanderung durch die deutsche Wirtschafts- und Literaturgeschichte. Namen wie Samuel Fischer, Rudolf Mosse, Oscar Blumenthal, Lina Morgenstern und Hermann Tietz (Warenhauskonzern Her-Tie) begegnen uns. Zu Recht hat Klaus Hammer diesem Friedhof eines der längsten Kapitel gewidmet. Mit seinen Grabfeldern, die von grünem Efeu völlig überzogen sind, mit seinen Bäumen und Sträuchern, die zwischen umgestürzten Grabsteinen wachsen, ist dieser Friedhof eine lebende Anklage gegen den millionenfachen Mord der Nationalsozialisten. Es gibt keine Angehörigen mehr, die die Gräber pflegen könnten.

Neben den Beschreibungen der Lebensläufe der Toten besticht das Buch mit seinen Kommentaren zu einzelnen Grabstätten. So erfahren wie beispielsweise, daß auch der Bauhaus-Architekt Walter Gropius ein Grabmal entworfen hat. Der auf die Prismenform reduzierte Sarkophag für den Kaufmann Albert Mendel (1866–1922) steht auf dem jüdischen Friedhof in Weißensee.

Was ich schon immer wissen wollte: Warum stehen auf den Berliner Friedhöfen so viele glatt geschliffene Säulen, die abgebrochen sind? Sie sind Symbole für jäh beendetes Leben aus dem 19. Jahrhundert, als die griechische und römische Antike hoch im Kurs waren. Verblüffend sind manchmal die detailreichen Querverweise zu ähnlichen Grabmälern oder anderen Werken der gestaltenden Künstler. Leider finden sich heute kaum mehr künstlerisch wertvolle Grabmäler. Auch das ist wohl ein Ausdruck dafür, daß Tod und Sterben von unserer Gesellschaft, die die Jugend als Ideal hat, verdrängt werden. Deshalb sollte man auf dem Kreuzberger Dreifaltigkeitsfriedhof am Halleschen Tor sich die vier von Kurt Mühlenhaupt gestalteten Grabsteine anschauen, die er schon einmal für seinen Bruder, die Schwester, seine Frau und sich selbst auf Vorrat produziert hatte! Die Reliefs sehen so aus wie seine Bilder.

Bei den vielen Anregungen und Details kann man auch über einige Oberflächlichkeiten des Buches hinwegsehen. Manchmal werden Ungleichgewichte deutlich. Auf dem Friedhof um die Dorfkirche Dahlem, Königin-Luise-Straße, liegen u.a. Helmut Gollwitzer und Rudi Dutschke. Während das Wirken des Theologen Gollwitzer auch in politischer Hinsicht ausführlich beschrieben wird, liest man zu Rudi Dutschke nur die Standardformulierung des „Soziologen und Führers der APO“. Trotzdem: Das Buch kann so etwas wie ein Klassiker werden.

Klaus Hammer: „Historische Friedhöfe in Berlin, mit Fotos von Jürgen Nagel“, Berlin, Stattbuch- Verlag 1994, 448 Seiten, zahlreiche Abbildungen und Übersichtskarten, 44 DM.