Winken aus dem himmelblauen Liegewagen

■ Gestern ging die wirklich allerletzte Militäreinheit der russischen Truppen auf die Heimreise / Der Moskauer Bürgermeister war da und Diepgen sprach ein wenig russisch

Der Himmel über dem Bahnsteig 20 des Bahnhofs Lichtenberg hatte sich dem „großen historischen Ereignis“ (Eberhard Diepgen) mit bemerkenswerter Sensibilität angepaßt. Zur Verabschiedung der letzten geschlossenen Militäreinheit der russischen Westtruppen gab es graue Wolken auf grauem Grund und ab und zu ein paar Minuten Regen. „Das Wetter spiegelt unser Gefühl wider“, gab sich der extra angereiste Oberbürgermeister Moskaus, Juri Luschkow, lyrisch. „Manchmal Wolken, manchmal Sonnenschein.“

Doch letzterer war dann doch eher Wunsch als Realität. Die 1.000 zumeist jungen Soldaten der 6. Motorbrigade, die zuletzt in Karlshorst stationiert waren, erlebten die Abschiedsreden in zwei langen Reihen vor dem Zug im Regen. Zwar nicht strammstehend, aber doch fast ohne sichtbare Emotionen lauschten sie den Worten ihres Generalmajors Juri Makarow, der aus dem Trockenen der schützenden Bahnsteigüberdachung an die Leistungen der Roten Armee nach dem Zweiten Weltkrieg erinnerte und den Deutschen für die gute Zusammenarbeit dankte: „Wir gehen als Freunde.“ Daß Freundschaft auch Verpflichtung mit sich bringt, unterstrich Juri Luschkow. Der Moskauer Bürgermeister äußerte die Hoffnung auf „Unterstützung durch die Deutschen, besonders bei der Umschulung von Offizieren“.

Etwas Bewegung kam erst in die unerschütterlich im Regen ausharrende Soldatenreihe, als Diepgen sprach. Der Regierende Bürgermeister, trotz des schlechten Wetters und der ihn bedrängenden Fernsehteams und Fotografen sichtlich gut gelaunt, verabschiedete die Soldaten als „Botschafter der Gemeinsamkeit“ mit einem mutigen „Do Swidanja“, das so manchen russischen Mundwinkel zum Höhenflug animierte.

Nachdem eine Berliner Flagge, die am neuen Stützpunkt in der Stadt Kursk bei Moskau an die deutsche Zeit erinnern soll, im Zug verstaut war, begann unter den melancholisch stimmenden Klängen russischer Bläser die Einsteigezeremonie. Allerdings ohne das obligatorische Gerangel mit Gepäckstücken, denn die waren wie zehn mit Tarnplanen bedeckte Panzer schon vorher im beziehungsweise auf dem Sonderzug 93294 verstaut worden.

Um halb eins hieß es für die Soldaten endgültig rein ins Abteil, die altrosa-weiß gestreiften Vorhänge vor den Wagenfenstern beiseite geschoben und noch ein-, zwei-, dreimal für die Knipsenden gewunken. Jungen in grüner Uniform hinter dem Glas der himmelblauen Liegewagen, vorsichtig geschwenkte Bärenfähnchen – so mancher der knapp hundert Schaulustigen hielt dieses Motiv fürs Familienalbum fest. „Das ist ein historischer Moment“, sagte ein 25jähriger, der mit seinem Freund extra aus dem bayrischen Neu-Ulm nach Berlin gekommen war, um die Verabschiedung der Streitkräfte mitzuerleben. „Bei uns bekommt man ja kaum was mit.“ Er hoffe, „irgendwann später“ die gesammelten Eindrücke „verwerten“ zu können.

Die letzten Minuten vor der Abfahrt vertrieb man sich ganz nach Klischee. Generalmajor Makarow kam mit einer Flasche deutschem Sekt, um Diepgen mit eiligst aus dem Zug beschafften Gläsern ein letztes Mal zuzuprosten. Mit dem üblichen „Türen schließen“ ging die Heimreise pünktlich um 12.45 Uhr los. Vorne auf der Lok ein Transparent mit der kyrillischen Aufschrift „Heimat, empfange uns“, im Zug und auf dem Bahnsteig winkende Taschentücher. „Jeder Abschied ist traurig“, sagt Hanni Simon aus Karlshorst, die als Mitbegründerin eines deutsch- russischen Klubs sich gerade von „vielen guten Freunden“ verabschiedet hat. Daß die russischen Soldaten Angst vor der Rückkehr haben, glaubt sie aber nicht: „Wieso? Sie fahren doch nach Hause.“ Anne-Kathrin Schulz