I can't get no Synthese

Hohe Celsiusgrade: Blumfeld, Hamburgs Pop-Hoffnung, haben ihre zweite Platte gemacht  ■ Von Thomas Groß

Uff, Blumfeld. Vor dieser Platte habe ich Angst gehabt, und nicht nur, weil erwartungsgemäß schon vor dem offiziellen Erscheinungstermin die ersten Interpretationskorsagen schattenwerfend in der Landschaft herumstanden; auch, weil Gänsehäute immer noch so etwas Unspezifisches sind. „Ich fühl mich an wie Pyrotechnik“, „jeder geschlossene Raum ist ein Sarg“ oder, noch dicker: „Deutschland, Deutschland, spürst du mich/heute nacht, da komm ich über dich“ – solche Zeilen simmern mit einer ganz eigenartigen Körpertemperatur daher, lassen einen ratlos und „betroffen“ mit der Frage zurück: Ist Jochen Distelmeyer nun der Heinrich Heine der Hamburger Schule oder doch bloß die Ulla Hahn des allerjüngsten Lyrik-Revivals?

Aber natürlich ist es gerade die Ungeschiedenheit der diversen Anteile, die auch dieses zweite Werk von Blumfeld so ... anders macht. Unablässig wird Atem geholt, blüht purpurgiftig die Poesie, wird Fragment auf Fragment geworfen – bestenfalls ohne Rücksicht auf Mißverständnisse oder andere Peinlichkeiten. I can't get no Synthese: Jochen Distelmeyer, Gitarrist und Sänger des in Hamburg wahlbeheimateten Trios, hält sozusagen mit Gewalt den Spalt offen zwischen den Vernunftgedanken eines realitätstüchtigen, versachlichenden, geschmackssicheren, vielleicht aber auch nur erfolgreich den schnöden Umständen angepaßten mitteleuropäischen Rock-Steuerzahlers und den wertherhaften Leiden eines auch schon nicht mehr besonders jungen Mannes aus der Provinz (Bad Salzuflen). Hereingeströmt kommen die Geister einer ewigen Pubertät, die, im Distelmeyerschen Sinne gewendet, nicht an der Verlängerung jugendlicher Glücksgefühle arbeiten, sondern an der Konservierung jenes grundlegenden Nichteinverstandenseins, das seit vierzig Jahren den Einspruch des Rock'n'Roll gegen die verwaltete Welt promotet.

„Rock'n'Roll hat meinem Leben/einen neuen Sinn gegeben“, heißt es hierzu bekennend glamourös im Titelstück „L'État Et Moi“. Daß allerdings ausgerechnet dieses Stück ganz ohne Bandbegleitung deklamiert wird, allein mit den Rhythmisierungen des Sprachmaterials auskommen muß, ist nur das sinnfälligste Indiz dafür, daß Distelmeyer den Duineser Elegien mindestens soviel verdankt wie der Geschichte der populären Musik. Der Backbeat ist amerikanisch – ein Traum von frühen Velvet Underground hier mehr denn je –, der Sänger und die Worte aber hängen an Europa. Anders ausgedrückt: Blumfeld/Distelmeyers poetische Strategie erfüllt geradezu beispielhaft die Kriterien, die (zuerst) in der europäischen Literaturtheorie für den modernen Text genannt worden sind: kein vordergründiger „Realismus“, kein Ausdrücken von „Inhalten“, statt dessen ein Verständnis vom Text als eigener Produktivkraft. Erst das Eintauchen in den Strom der Sprache eröffnet die Möglichkeit, sich selbst zu erkunden, sich sprechend und schreibend neu zu erfinden – in Distelmeyers eigenem Idiom: Wo andere Sänger Rock'n'Roll-Schemata erfüllen und Klischees leben, „stelle ich mich ins Blaue rein synthetisch her.“

Das Ergebnis dieser Operation ist der Songtext als work in progress – ein rasender (Selbst-)Verständigungsroman, in dem der Sänger setzt, verwirft, prometheisch an seinen Selbstentwürfen bastelt. Er ist der Versucher Gottes, der harte Arbeiter im Steinbruch Text. Und so existentiell und „authentisch“ das auch klingen mag: Es hat schon viel mit Lesefrüchten zu tun, die, wie auch immer, in die Turbulenzen eines kunstvoll entzündeten juvenilen Aufbegehrens gelangt sein mögen. Der Junge Jochen ist Lenz, der durchs Gebirg geht, er ist Artaud mit seinen Glossolalien, Daniel Paul Schreber, der den Kosmos im Arsch hat, Hölderlin im Turm – und am Ende alles zugleich: Kurt Cobain („Support your local Schmerz“), Rainald Goetz („Licht wird alles, was ich fasse“), Reinhard Mey („Über den Wolken“) und Ingeborg Bachmann („Eine Sprache aus Trauer“), ja, vor allem letzteres: Bachmann Turner Overdrive.

Hört sich gruslig an? Muß aber so sein. Daß solches Dichten vom fortgeschritteneren Teil der urbanen Jugend nicht nur geduldet, sondern zumeist sogar euphorisch begrüßt wird, macht klar, wie dringend nötig die Szene eine Figur wie Distelmeyer hat. Nichts war ja in den letzten drei Jahren seit dem Schock von Hoyerswerda kleiner, häßlicher und verpönter als die weiße, womöglich „deutsche“ Melancholie, nichts zugleich aber heftiger ersehnt als deren glaubwürdige Rückkehr. „Und ich, und ich, und ich, und ich bin wichtig“, sangen Die Sterne, ebenfalls Hamburg, fast schon flehend – ein Klassiker im übrigen: Im Beatles-Songbook war unter „I“ schon immer ziemlich viel los.

Bei Blumfeld/Distelmeyer schießt sie nun wieder ins Kraut, die alte Neigung, das Herz zu halten wie ein krankes Kind – aber nicht als bloßes Revival von „Innerlichkeit“, sondern als Versuch, Politik und Privates im Pathos eines heldischen, „authentischen“ Textes zu vermitteln, den – und das ist das Tolle – man in diesen Celsiusgraden schon nicht mehr für möglich gehalten hätte. Ja, gerade da, wo die Peinlichkeit am größten, wächst das Ergreifende auch. „DISTELMEYER IST GOTT“, möchte man an die nächstbeste Brandwand sprühen, und das ist jetzt nicht mal allzu ironisch gemeint. Distelmeyer ist der Jesus aus dem Jugendzimmer: Wenn er dichtet, revoltiert er zugleich gegen den Staat, und wenn er, der sich auch als Politaktivist Credibility erworben hat, vor Ort kämpft, tut er das zugleich stellvertretend für all die faulen Pop-Dandys in ihren urbanen Kojen.

Ein Job ist das allerdings, der einem naturgemäß auch eine harte Zeit gibt. Jesusse haben keine Teilzeitverträge, die lyrischste Lyrik schützt vor Mißverständnissen nicht (im Gegenteil!), und Distelmeyers Kampf gegen den Staat ist zuletzt auch einer gegen den Hofstaat. Mehr noch als auf der ersten LP reflektiert sein Text die Zwänge eines Hamburger Szene- Kleinkönigs, dem die Belagerung sowohl durch die Fans als auch durch die professionellen Diskursgeber allmählich unheimlich wird. Zu vieles ruht auf zu schmalen Schultern. Plötzlich scheint der Auserwählte raus zu wollen aus allem, zumindest den Anspruch auf neue Bahnen am Firmament des diskursiven Deutsch-Pops anzumelden – am deutlichsten in „Superstarfighter“, dem Stück, dessen Titel sowohl das Sternenkämpfertum selbst als auch den Kampf dagegen meint, und dessen Text auf die Zeilen hinausläuft: „Bitte hilf mir, vergiß die Lieder, die ich spiel, die hatten nie etwas zu tun mit dir, die sind so hohl wie ich ...“

Es ist klar: Niemand hat vor dieser zweiten Platte mehr Angst gehabt als Blumfeld selbst. Gib also dem Erwartungsdruck die Schuld, wenn „L'État Et Moi“ an manchen Stellen einen etwas zusammengekratzten Eindruck hinterläßt, Aussagen durch ein Übermaß an Kommentar neutralisiert, Bekanntes in neuen Versionen recyclet – als hätte die Gruppe sich schon sehr zusammennehmen müssen, um noch einmal ein Statement zu hinterlassen und nicht einfach abzuhauen, weiter in eine Ästhetik des Verschwindens hinein.

Denn im Grunde ist Distelmeyer mit der zuletzt zitierten Passage auf seiner langen Reise durch die Tonfälle ja fast schon beim späten Brecht angelangt: Verwische die Spuren! Werde ein Weiser! Lösche dich aus! Sei eine Form, durch die der Wind pfeift!

In der schönsten Phantasie, die ich von Jochen Distelmeyer habe, sitzt er tatsächlich im Zentrum seiner ganzen manischen Dichterei und lacht, lacht sich ins Fäustchen über all die Exegeten, die sich für Worte einen kleinen Sinn zurechtlegen wollten. Aber wahrscheinlich ist das nicht so. Wahrscheinlich lacht er nicht.

Blumfeld: „L'État Et Moi“ (What's So Funny About .../ Rough Trade)