Statt Querdenken nur Hausmannskost

Die vielgepriesene Innovationsfähigkeit von Ministerpräsident Kurt Biedenkopf blieb in Sachsen deutlich hinter den Erwartungen zurück / Flotte Sprüche überdecken Konzeptionsmangel  ■ Aus Dresden Detlef Krell

Verschmitzt lächelnd, ganz der Landesvater, blickt er vom Wahlplakat herab auf sein Völkchen. „Für Sachsen“, lautet die personifizierte, knappe Botschaft. Wenn dieser Mann weitermachen soll nach dem 11. September, weiß WählerIn, dann muß jene Partei angekreuzt werden, die da unten auf dem Plakat wie beiläufig erwähnt ist. Wahlkämpfe ficht Kurt Biedenkopf scheinbar nicht aus; er häkelt weder rote Söckchen noch droht er wem mit abgehackten Händen: „Ich werde den Sachsen sagen, was sie in den vergangenen vier Jahren geleistet haben. Das ist für mich entscheidend.“

Das pausbäckige Stehaufmännchen vom Rhein schickt sich an, im grünweißen Freistaat an der Elbe seine erste Pension zu beziehen – als Ministerpräsident. Über Koalitionsstrickmuster zerbricht sich nur die Opposition den Kopf. „Sehr amüsiert“ habe sich der Regierungschef über die Schwarz- grün-Debatte. Die Regierungspartei kann es sich gut leisten, mangelnde Nachfrage im Lande auszusitzen und hinter dem Rücken des Chefs darauf zu warten, daß alles so weitergeht wie bisher. „Mein Ziel ist die Erneuerung des Mandats, das die Wähler uns 1990 gegeben haben.“ Der das ohne Pathos verkündet, ging im April 1990 als geschaßter CDU-Generalsekretär und gescheiterter Oppositionsführer aus Nordrhein-Westfalen ins Sächsische. Er nahm eine Professur an der Universität Leipzig an und richtete schon ein halbes Jahr später die Häupter der in Grabenkämpfen zermürbten sächsischen CDU auf. Als Spitzenkandidat führte er die Partei zur absoluten Mehrheit im Landesparlament. Mit der geballten Macht von 53,8 Prozent konnte Biedenkopf daran gehen, den Aufbau des Freistaates nach seinem Bilde zu managen.

Die CDU in Sachsen heißt Biedenkopf. Aber Biedenkopf ist mehr als die sächsische CDU. Gelegentlich versteht er auch den Eindruck zu erwecken, er könne ganz gut ohne die Union. Bei den Verhandlungen um den Solidarpakt ritt er an der Spitze der Länder gegen Kohl und Waigel. Beim Metallerstreik im vergangenen Jahr moderierte er die Verhandlungen zwischen Gewerkschaft und Unternehmerverband. Als der Kanzler einen Steffen Heitmann auf die bundespolitische Bühne schubste, hielt Biedenkopf sich aus dem ganzen Ärger weitgehend heraus. Schließlich nahm er seinen Justizminister zurück wie eine Pfandflasche, unbeirrt in der landespolitischen Tagesordnung. Sein Kabinett brachte „Biko“ nahezu unbeschadet über diese vier Jahre. Austauschen mußte er nur einige Ost-Minister. Biedenkopf verstand, jeden Sturz als Sieg zu begehen. Jungstar Arnold Vaatz, der ihm als Kanzleichef eine Idee zu keß geworden war, versetzte er ins Umweltressort; Kultus gab er dem langweiligen Friedbert Groß, weil Schulpolitik ja ohnehin vom SPD- Exoten und Staatssekretär Wolfgang Nowack betrieben wird. Für das Innenministerium holte er sich mit dem Pfarrer und Stasi-Opfer Heinz Eggert ein politisches Talent für die umgänglich-jovialen Töne an das zaudernde Volk. Da fällt es kaum auf, daß Eggert seit seiner spektakulären Wahl zum Kohl- Vize in der Bundespartei kaum Punkte machen, geschweige denn etwas bewegen konnte. Dresden ist das interessante Pflaster, Bonn bleibt nur Nebensache. Rücktrittsforderungen sind Biedenkopf so fremd wie etwa das Verlangen, eigene Fehler abzurechnen. Während andere Ost-Länderchefs über ihre hausgemachten Skandale stolperten, verfaßte der Wirtschaftsprofessor politische Artikel und Gattin Ingrid ein sächsisches Kochbuch.

„Blühende Landschaften“ hat Biedenkopf nie versprochen. Er zog es vor, die „Gestaltung der inneren Einheit Deutschlands“ als einen „Neuaufbau ohne Vorbild“ schmackhaft zu machen, an der sich jede und jeder beteiligen könne. Er gehörte zu den wenigen Politikern damals, die das Ziel dieses Neuaufbaus als „neues Gemeinwesen“ charakterisierten, in das auch die alte Bundesrepublik nicht ganz unverändert eingehen könne. „Deshalb lade ich alle Deutschen im Westen und im Osten ein, sich an der großen Aufbauleistung in Sachsen zu beteiligen.“ Bevor er diese Worte in der Antrittsrede vor dem Sächsischen Landtag halten konnte, scheute er sich nicht, im Wahlkampf die zu erwartende Arbeitslosigkeit mit 40 Prozent zu beziffern. Sogar mit einem möglichen Aufstand der WählerInnen kokettierte er: „Ich würde mich nicht wundern“, salbte er damals die zahlreichen BesucherInnen seiner Wahlveranstaltungen, „wenn Sie in einem Jahr vor der Staatskanzlei demonstrieren, weil Sie es nicht mehr aushalten.“ Heute, im Wahlkampf, lobt er das Volk, weil es so gut mitmacht: „Der überwältigende Teil dessen, was hier geleistet wurde, wurde von den Menschen in Sachsen geleistet. Die Sozialdemokraten erwarten immer noch, daß alles von der Regierung kommt.“ Manchmal kommt er ins Schwärmen: „Ich finde es toll, wie die Menschen sich wieder durchsetzen, wie sie Neues anpacken und sich dabei nicht von Schwierigkeiten einschüchtern lassen. Der Regierung ist es offenbar gelungen, diese Potentiale mit zu aktivieren.“

So erscheinen vier Jahre CDU- geführte Landespolitik als Summe von alternativlosen Pioniertaten. Manchmal schmerzhaften freilich, mit Fehlern, nein, Irrtümern behaftet auch, aber letztlich waren es ja alles Taten zum Wohle des Volkes. Den um die Zukunft ihrer Firma bangenden 550 Beschäftigten der Waggonbau Niesky GmbH, Teilstück des inzwischen größten Treuhandbrockens Deutsche Waggonbau AG, ist bestimmt wohler zumute, seit sie vom Landesvater hörten: „Lassen Sie die Sorgen zurück, daß Niesky eingeht.“ Der Freistaat sei doch bereit, sich an der Privatisierung des Unternehmens finanziell zu beteiligen. Dem Betriebsratsvorsitzenden fiel dazu nur Lob ein: „Herr Ministerpräsident, Sie waren saustark!“ Aber der saustarke Ministerpräsident hatte unterschlagen, daß SPD-Opposition und IG Metall genau das seit zwei Jahren fordern, was nun in CDU-Farben als Rettungsanker an verzweifelte (Nicht-)WählerInnen ausgeworfen wird. Ob es hilft, steht in den Sternen. Die DWA wird das laufende Jahr erstmals mit Millionenverlusten abschließen.

Die Innovationsfähigkeit der Biedenkopf-Regierung war in diesen vier Jahren deutlich unter den Erwartungen geblieben, die 1990 auch von der Opposition an den „Querdenker“ geknüpft wurden. Schon für seine Antrittsrede bescheinigte ihm SPD-Fraktionschef Karl-Heinz Kunckel „biedere Hausmannskost“. Hin und wieder mochte es der Landesvater auch zynisch. Nach der Zukunft des Freistaates befragt, bot er sich als wahrsagender Kuppler an: „Die Sachsen werden in 20 Jahren so leben wie alle in Deutschland ... Das geht nur durch Querwanderung. Ein Schwabe muß halt eine hübsche Sächsin heiraten.“ Vor vier Jahren beschwor er noch die Jugendlichen, „der enormen Versuchung“, in den Westen zu gehen, standzuhalten. Doch alle blumigen Appelle, „durch eine Vielzahl von Aktivitäten dafür zu sorgen“, daß die Jugend nicht abwandert, sind längst der unverblümten Forderung gewichen, die Berufsausbildung in den alten Bundesländern zu absolvieren. Kajo Schommer, Chef eines Ressorts mit dem für Deutschland einmaligen Namen „Wirtschaft und Arbeit“, läßt der Ministerpräsident ungestraft über die wundersame Verwandlung arbeitsloser Frauen in selbständige Unternehmerinnen phantasieren: „Was steht dem entgegen, daß eine alleinstehende Frau mit Kind eine Hilfe im Haushalt beschäftigt? Die Kosten dafür könnte sie steuerlich absetzen.“ Sozialminister Hans Geisler gab den SozialhilfeempfängerInnen des Freistaates zu verstehen, er könne sich „gut vorstellen“, mit 497 Mark im Monat auszukommen. Solche flotten Sprüche offenbaren weniger den Zynismus als die anhaltende Konzeptionslosigkeit der Biedenkopf- Regierung. Sachsen steht mit dem Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner an drittletzter Stelle der neuen Bundesländer.

Im ersten Quartal 1994 gingen 150 Prozent mehr Firmen in Konkurs als im Vergleichszeitraum des Vorjahres. Die offizielle Arbeitslosigkeit liegt bei 16 Prozent; 40 Prozent der Bevölkerung, im Erzgebirge und der Oberlausitz über 50 Prozent, sind vom Arbeitsamt abhängig. 70 Prozent der Arbeitslosen sind Frauen, ein makaberer Rekord in den neuen Bundesländern. Von den theoretischen Exkursen des Wirtschaftsprofessors über Wachstumskritik und Förderung des Mittelstandes bleibt in der Tat nicht viel. Ein Prozent der Landesfläche sind mit „Gewerbeparks“ zugepflastert, 80 Prozent der Einkaufsfläche sind auf ehemals grüner Wiese mit dem Auto anzufahren. Nur noch ein Fünftel der sächsischen Bauern verdienen ihr Brot in der Landwirtschaft. Mehr als vier Milliarden Mark fließen in den Straßenbau, mehr als die Hälfte davon in zwei ökologisch katastrophale und verkehrspolitisch unsinnige Megaprojekte. Die Untertunnelung des Landschaftsschutzgebietes Königshainer Berge für die Verlängerung der A 4 und der Bau der A 13 von Dresden nach Prag wurden mittels CDU-Mehrheit gegen den Willen der Opposition durchgedrückt. „Statt mutig neue Wege zu gehen“, bilanziert die bündnisgrüne Spitzenkandidatin Kornelia Müller, „wurden die ausgetretenen Trampelpfade der alten Bundesrepublik eingeschlagen, natürlich nicht, ohne dieselben bei jeder Gelegenheit lautstark zu kritisieren.“

„Arroganz der Macht“ lautete ein Standardvorwurf der Opposition gegen die Regierungsfraktion. Das Schulgesetz, das Gesetz über die Kindertagesstätten, das schärfste Polizeigesetz der Bundesrepublik und viele andere Teile des Gerüstes für den „Rohbau“ (Biedenkopf) Freistaat Sachsen kamen allein mit den CDU-, gelegentlich auch FDP-Stimmen zustande. Als erstes neues Bundesland gab Sachsen sich eine Verfassung, von Landtagspräsident Erich Iltgen gewürdigt als „die modernste und zeitgemäßeste Landesverfassung“ in Deutschland. Mit der Aufnahme des Schutzes der natürlichen Lebensbedingungen als Staatsziel und des Rechts auf einen wirksamen Datenschutz gehe sie bereits über den Standard des Grundgesetzes hinaus. Anerkannte Naturschutzverbände erhielten Klagebefugnis in Umweltbelangen. Daß diese Reformideen Eingang in die Verfassung gefunden haben, ist dem zähen Ringen der Opposition, besonders Bündnis 90/Grüne, zu verdanken und dient der Regierungsfraktion heute als gewichtiger Beleg für Dialogbereitschaft. Doch der Verfassungsalltag sieht anders aus. Die Klagebefugnis der Umweltverbände fand eben keine Entsprechung im Sächsischen Naturschutzgesetz, das vom BUND als das reaktionärste in Deutschland kritisiert wird. Mit diesem Widerspruch muß sich nun der Verfassungsgerichtshof in Leipzig befassen. Dort liegt auch eine Klage von Bündnis 90/Grüne und SPD gegen das Polizeigesetz. Vor der Aushöhlung des Datenschutzes in dem Gesetz hat sogar der Datenschutzbeauftragte, ein Parteifreund Biedenkopfs, gewarnt.

Auf ihrem Landesparteitag zum Wahlauftakt demonstrierte die CDU Geschlossenheit und Siegeswillen. „Klare Verhältnisse“ sollen in Sachsen bestehen bleiben. Mit diesem Schlagwort lockt die Union verunsicherte NichtwählerInnen, damit tritt sie aber vor allem der SPD vors Schienbein. Als „echte Enttäuschung“ bedauert Biedenkopf seinen Herausforderer Kunckel, seit dieser seine Unterschrift unter die unsägliche „Dresdner Erklärung“ der SPD gesetzt hat. In diesem Papier wird pauschal unterstellt, der Westen habe den Osten vier Jahre lang mit seinen Problemen allein gelassen. Für den Minsterpräsidenten willkommener Anlaß nach dem Muster: „Entweder diese Leute haben ihren Verstand verloren oder sie haben keine Ahnung.“ Streicheleinheiten dagegen für den Stolz der Landsleute: „61 Prozent der Sachsen sagen: Sachsen ist vorn in der Liste der ostdeutschen Länder.“ Bekommt Biedenkopf erneut das Mandat der WählerInnen, sind tatsächlich die „klaren Verhältnisse“ vorgezeichnet. Im Interview hat der Politsenior selbst seine Grenzen umrissen: „Ich habe getan, was ich konnte. Besser kann ich's nicht.“