Fleischerhaken auf Polaroid

■ Die Brutal-Poesie der katalanischen Performancegruppe La Fura dels Baus erscheint in Juan Navarros Soloprogramm nur noch als Zitat: „Angst vor der Stille“

Von der Decke baumeln sie, aufgehängt im Viereck an Gummischnüren, die Leichen der Erinnerung. Komplett ist keine einzige. Es fehlen die Arme oder der gesamte Oberkörper, bei einem Torso hat nur ein Bein eine säuberliche Schnittkante, das andere scheint herausgerissen. Die Fläche unter den Menschenteilen ist mit einer nassen Plastikplane ausgeschlagen. In der Mitte steht ein Zuber, mit Wasser gefüllt, wie eine Fruchtblase. Daraus wird der geboren, dessen Kindheitsreste am Plafond schaukeln, herausgeschleudert in eine feindliche Welt. Er windet sich erst am Boden, im Kampf um das Leben, all das Wasser von sich spritzend. Dann probt er die ersten unsicheren Schritte. Einen schwarzen Mantel hat er sich zum Schutz vor der Kälte übergezogen. Einem Findling wie Kaspar Hauser gleich, ertastet er mit eckigen Bewegungen die Fremde.

Mit diesem archaisch-deutlichen Bild beginnt das Solo-Spektakel von Juan Navarro, und es zeigt auch gleich in Übergröße seine Herkunft: Bei den katalanischen Kult-Performern La Fura dels Baus hat er sein Handwerkszeug dereinst gelernt. Ganz dem folgend, was mittlerweile schon so etwas wie ein spanisches Performance-Rezept ist, unterstützt eine Rockgruppe die Bühnenaktion. In einem Podestkasten stehen Schlagzeuger und Gitarrist und spielen, was man erwartet: Heavy- Sound mit sphärischen Einsprengseln, falls die Situation danach ist.

Navarro unternimmt eine Reise in jenes ungeschützte Reich der Stille, wo Schweigen und Dunkelheit die Angst vor der eigenen Geschichte ins Halbbewußte sickern lassen. An Traumfetzen der Erinnerung hangelt er sich entlang, und wie ein Dämon hängt die Familie über allem: Aus dem Off ertönen die Stimmen von Vater, Mutter und Kind mit sich überlappenden Halbsätzen, auf dem glitschigen Bühnentuch kämpft der Protagonist sprechsingend und klagend mit seiner Vergangenheit. Die Schaufenstergestalten verkörpern sie. Auf einem erhöhten Stuhl will er über die Eltern zu Gericht sitzen, doch der wird zur Zentrifuge.

So einfach verschwinden die Geister des Vorlebens nicht, sagt uns das. Was von der Kindheitsbewältigung bleibt, sind die Elternteile am Fleischerhaken, als Polaroidbild im ewigen Ordner der Erinnerung abgelegt. Der geläuterte Träumer kann sich aus einem Koffer mit Schlips und Schick neu einkleiden, um am Ende wieder dahin zurückzukehren, woher er gekommen ist: ins Wasser.

Die Bilder dieses psychoanalytischen Kampfes um die Freiheit des Seins sind en gros und en detail bekannt. Navarro plündert den Fundus der elterlichen Ästhetik. Fast sämtliche Versatzstücke waren so oder ähnlich schon in den frühen Fura-Stücken zu sehen. Was er allerdings gänzlich wegläßt, ist deren anarchische Gewalt. Juan Navarro hat die Brutal-Poesie seiner Kinderstube gezähmt. Deshalb funktioniert sie nicht mehr.

Die rohen Fleischstücke, die früher auf Spießen steckten und durchs Publikum flogen, sind zu Papp-Puppen mutiert. Das ergibt zwar ein eindrucksvolles Bild, aber die Gefährlichkeit fehlt. Das Publikum sitzt um die Spielfläche herum und goutiert wohlausgeleuchtete Körperspasmen. Niemand wird bedroht, wenn Navarro mit weitaufgerissenen Kinderaugen den Zuschauerrand abschreitet, die Distanz bleibt. Es gibt nichts zu riechen und zu schmecken, das Theater wird wieder zu dem, was es vor den Furas war: ein abgezirkeltes Ereignis hinter der Rampe, bisweilen hübsch anzusehen, aber ohne den direkten Biß in die Zuschauerhaut. Der Vorgeschmack auf das Original ist schal. Das kommt allerdings schon am nächsten Mittwoch ins Tempodrom. Und eines ist bei den echten Furas sicher: auf den eigenen Kamellen haben sie sich nie ausgeruht. Gerd Hartmann

„Angst vor der Stille“ von Juan Navarro, noch am 3./4. und 7.-11.9., jeweils um 22 Uhr, im Straßenbahndepot Moabit, Wiebestraße 29-39.