■ Die Nackten und die Türken im Berliner Tiergarten
: Muselmanisch depressiv

Die Nackten und

die Türken im Berliner Tiergarten

Muselmanisch depressiv

Berlin, Sommer 1994. Grillende Großfamilien im Tiergarten bei über 30 Grad Hitze. Ungeachtet der immer wiederaufflackernden Diskussion darüber, ob das Feuermachen in öffentlichen Grünanlagen erlaubt und ökologisch verantwortbar sei, herrscht hier höchste Zufriedenheit: Der Rauch steigt, das Fleisch brutzelt, der Tee siedet, die Kinder spielen, man sitzt und redet. Die eilig aufgestellten, kaum beachteten Drahtkörbe mit handschriftlichen Schildern „Nur Asche/Yalniz Kül“ verleihen dem Treiben gar einen Hauch von Multilegalität. Unsichtbar verlaufen die territorialen Grenzen in der – überregional diagnostizierten – multikulturellen Mischung vom „Miteinander unter sich“. Die Nackten halten respektvoll Abstand von den Türken und umgekehrt. Nur Sozialforscher, die sich mit Fotoapparaten heranpirschen, werden gelegentlich gesichtet. Sollte es möglicherweise kein Zufall sein, daß die Berliner Türken sich ausgerechnet den Tiergarten für ihre Zusammenkünfte ausgesucht haben? Grün ist schließlich das Banner der Fundamentalisten, also heißt „ins Grüne“ symbolisch gesprochen soviel wie „näher zu Gott“. Bei der Tiergarten-Untertunnelung seien übrigens, so hört man munkeln, extra Grillschächte vorgesehen ...

Währenddessen berät im Haus der Kulturen der Welt – im Zentrum (wenn auch nicht im Epizentrum) dieser „Legalize Grill Party“ – eine schwitzende Expertenrunde darüber, was man tun könne, um den Ausländern zu Kultur und zu größerer Präsenz in den Medien zu verhelfen. Von dem neugegründeten „Radio MultiKulti“, das beim SFB die bisherigen Sendungen für den ausländischen Mitbürger ablöst, wird berichtet, das Musikprogramm dieses Senders werde alles umfassen, bloß keinen anglo-amerikanischen Pop. Ob sich die Tekkno-Türken von World Music überzeugen lassen? Die Experten fassen unterdessen Zutrauen und eröffnen einander, AusländerInnen seien auch Menschen. In den Medien sollten sie nicht immer als Problem auftauchen, sondern als Normalität. Tatsächlich spielen immer mehr Serien in der Türkei oder lassen im heimischen Umfeld Türken mitspielen, oft als fröhliche Imbißbudenbetreiber – schließlich soll Fernsehen die Wirklichkeit widerspiegeln.

Die Medienbeauftragten, die sich da mit großem Engagement für die benachteiligten Ausländer einsetzen, fragen nicht danach, ob jene die ihnen gewährten kulturellen Gaben wirklich wollen. Was die da draußen brauchen, weiß man drinnen meist schon, ohne sie zu fragen. Einige weisen darauf hin, daß die Fiktion homogener kultureller Identität und eindeutiger Gruppenzugehörigkeit mittlerweile doch wirklich überholt sei. Da sehe ich mich unversehens aus der politisch korrekten Ecke angegriffen: „Du und Aras Ören – ihr habt eben nicht dieselben Erfahrungen wie der normale Gastarbeiter auf der Straße. Ihr seid doch keine Türken mehr.“ Daß Herkunft, Milieu und Bildung den Habitus eines jeden Menschen prägen, ist eine Banalität. Der deutsche Rundfunkredakteur hat schließlich auch nicht dieselben Erfahrungen wie der deutsche Bauarbeiter. Aber wie komme ich eigentlich zu denselben Erfahrungen wie der nicht anwesende Schriftsteller Aras Ören, von dem mich zumindest Generation und Geschlecht unterscheiden? Und welche Eigenschaften kennzeichnen den „normalen“ Gastarbeiter? Sieht der so aus wie in den Fernsehserien? Muß er gebrochen deutsch sprechen und in die Moschee gehen? Trägt seine Frau ein Kopftuch? Kauft er palettenweise bei Aldi? Dürfen seine Kinder studieren? Gibt es etwa richtige und falsche, entfremdete Türken?

Zumeist sind den deutschen Intellektuellen die benachteiligten Deutschen und deren Geschmack ebenso fremd wie die Ausländer. Auf den häßlichen Deutschen hetzt man lieber aus sicherer Entfernung. Unliebsame Menschen und Situationen begegnen uns in der Großstadt alle naselang, und es ist manchmal schwer genug, sich gegenseitig zu ertragen. Also bewegen wir uns in den eigenen Kreisen, mit den eigenen Vorlieben und Umgangsformen, was nicht weiter verwerflich ist. Auch Kulturprogramme werden hauptsächlich für Gleichgesinnte gemacht, obschon Medienmacher sich gerne als Erzieher des Volkes aufspielen. Allerdings sollten wir die differenzierte Individualität, die wir für uns selbst in Anspruch nehmen, auch den anderen zugestehen. Statt nach chimärischen Massen auf der Straße zu verlangen, könnte jeder versuchen, zunächst einmal mit eigenen Kollegen anderer Herkunft zu kooperieren, mit denen ein sachbezogener Dialog leicht anzuknüpfen wäre.

Der herablassend didaktische Impetus der Ausländerkulturarbeit ist noch lange nicht überwunden – sondern Methode. Die Betroffenheitsrhetorik floriert auf beiden Seiten. Die ausländischen Jugendlichen bedienen sich der vorgegebenen Diktion und ergehen sich in Wehleidigkeiten „zwischen den Kulturen“, behaupten gar: „Mein bester Freund ist Ausländer“, statt auf ihre persönliche Geschichte, ihre Eigenarten und Stärken zu pochen. Was bleibt einem auch übrig, bei all dem kommunal geförderten Miteinander, bei Wochen des ausländischen Mitbürgers, bei interkulturellen Schreibwerkstätten, bei Ikebana und Malen gegen den Rassismus. Selbst Graffiti und HipHop, einst Ausdrucksformen der amerikanischen Subkultur, sind inzwischen zum Workshop-Thema verkommen. Indessen fordern Katholiken den islamischen Religionsunterricht an deutschen Schulen. Statt Barrieren abzubauen, scheinen all diese Bemühungen Grenzen festzuschreiben und die Aufrüstung mit überkommenen nationalen Symbolen anzuheizen. Junge deutsche Türkinnen schmücken sich neuerdings mit Halbmond und Stern. Der Prozeß der kulturellen Begegnung und Vermischung läßt sich eben nicht kulturpolitisch verordnen und schon gar nicht von oben herab steuern. Doch kein Grund zur Depression: Während drinnen noch die Expertenrunde berät, ist draußen schon alles gegessen ... Deniz Göktürk