In narrativen Räumen

■ 8. Freiburger Video-Forum: Ein Interview mit dem Experimentalfilmer Grahame Weinbren über interaktives Kino

Offensiv genutzt, lassen sich auf Video viele Ideen realisieren, die als Film undenkbar wären – weil zu teuer, zu umständlich und zu wenig flexibel in heiklen Situationen. Das Amateur-Video über die Mißhandlung Rodney Kings durch weiße Polizisten war zwar vielleicht ein Zufallsprodukt, ist aber dennoch charakteristisch für die Rolle der billigen, handlichen Kameras als „little big brothers“ vieler politisch engagierter Künstler. Im Programm des diesjährigen Freiburger Video-Forums gibt es eine Vielzahl von Beiträgen und Veranstaltungen, in denen Video als schnelles, explizit politisches Medium präsent ist. Zu den Avantgardisten des Freiburger Video-Forums gehört der Experimentalfilmer Grahame Weinbren aus New York. Weinbren arbeitet seit zwölf Jahren an der Entwicklung eines interaktiven Kinos, seine jüngste Arbeit „Sonata“ (1993) ist eine Installation, in der der Zuschauer durch Bildschirmberührungen über Länge und Verlauf des Films entscheidet. Das Publikum bestimmt unter anderem, aus welcher Perspektive die Geschichte von Tolstois „Kreutzersonate“ erzählt wird, mit welchem Tempo und in welcher Chronologie das Eifersuchtsdrama auf dem Bildschirm erscheint, wieviel Subtext, Parallelhandlungen und Assoziationen zu sehen sind. Weinbren sieht die politische Herausforderung des interaktiven Kinos in der beiläufigen Aufhebung künstlerischer Autorität – eine Entwicklung, die möglicherweise auch Hollywood revolutionieren wird. Dorothee Wenner sprach mit dem Künstler.

taz: Wie kann die künstlerische Autorität im interaktiven Kino aufgehoben werden, wenn der Zuschauer doch nur zwischen vorgegeben Möglichkeiten entscheiden kann?

Grahame Weinbren: Die Experimente in amerikanischen Kinos, wo das Publikum per Knopfdruck lediglich bestimmt, ob ein Film glücklich oder tragisch endet, haben nicht viel mit dem interaktiven Film zu tun, das mich interessiert. Statt von „Wahlmöglichkeiten“ zu sprechen, möchte ich meine Arbeit lieber mit einer Stadt vergleichen, mit einem narrativen Raum, in dem man sich in verschiedenen Richtungen bewegen kann. Nun hat ja jeder Mensch eine ganz andere, individuelle Art, einen fremden Ort kennenzulernen. Einer rast durch Hauptstraßen, der nächste geht in Nebenstraßen spazieren, nur kann eben niemand durch Häuser hindurchgehen oder mit dem Auto durch einen Wohnblock rasen. Und genauso verhält es sich mit dem Ausgangsmaterial für interaktives Kino: Es kommt darauf an, selber die Richtung zu bestimmen und eigene Wege, Blickwinkel und Perspektiven zu finden. Eine touristische „Stadtführung“ gibt es nicht!

Trotzdem bleibt ja, was man auf dem Bildschirm sieht, vom Filmemacher konzipiertes und/ oder selektiertes Material. Man könnte meinen, daß im interaktiven Kino einfach nur ein konventioneller Film in unendlich vielen Versionen gezeigt werden kann.

Allein die Tatsache, daß ein konventioneller Kinofilm an einem Punkt beginnt und an einem anderen Punkt zu Ende ist, hat der filmischen Erzählform in den letzten hundert Jahren eine feste, aristotelische Struktur aufgezwungen. Am Ende müssen irgendwie alle Konflikte gelöst sein, – diese Notwendigkeit ist von der Linearität des Films vorgegeben, die normalerweise auch dazu führt, daß man einen Film nur aus einer bestimmten Perspektive sehen kann. Im interaktiven Kino dagegen kann der Zuschauer nicht nur entscheiden, aus welchem Blickwinkel er eine Geschichte sehen möchte. Das Medium erlaubt auch eine echte Heterogenität von filmischem Material, das nebeneinander existieren kann, es gibt eine Menge alternativer Sichtweisen durch die sich der Zuschauer einen Weg bahnen kann. Und dies ist genau der Aspekt, über den die Interaktivität die jahrhundertealte Autorität des Künstlers als Genius mit göttlicher Inspiration in Frage stellt. Wenn sich die einheitliche Idee eines Kunstwerks in eine Kompilation vieler Facetten aufsplittet, wird allmählich auch der scharfe „Klassenunterschied“ zwischen dem talentierten, wissenden Künstler und dem passiven, nur rezipierenden Publikum aufgeweicht werden. Ich halte es für eine wichtige, politische Geste, wenn die Rolle des Künstlers als „besonderer Mensch“ in Frage gestellt wird. Ein bißchen läßt sich dieses neue, interaktive Kinoverhältnis schon erahnen, wenn man videospielende Kinder beobachtet: Sie fühlen sich, als hätten sie die Kontrolle über die Spiele und als würden sie über den Verlauf der jeweiligen Geschichte entscheiden.

Inwiefern bedroht das interaktive Kino den traditionellen Film, oder – Hollywood?

Nun, ich bin überzeugt davon, daß es auch in Zukunft traditionelle Filme geben wird, schließlich hat das Theater auch die Erfindung des Kinos überlebt. Interaktives Kino ist meiner Ansicht nach auch kein völlig neues Medium, sondern eine Fortentwickung des linear strukturierten Films mit enormen Möglichkeiten. Trotzdem ist Interaktivität eine Bedrohung für Hollywood, zunächst mal aus ökonomischen Gründen. In diesem Jahr hat nämlich zum ersten Mal die Videospielindustrie die Einnahmen der Filmindustrie überstiegen. Zwar nur um ein paar Millionen Dollar, aber dennoch machten diese Zahlen der Filmindustrie plötzlich bewußt, wie groß Interaktivität als wirtschaftliches Potential tatsächlich ist. Meine Arbeit ist natürlich keine Bedrohung, für niemanden, erst recht nicht ökonomisch. Im Gegenteil: für interaktives Kino gibt es überhaupt nichts, was sich etwa mit herkömmlichen Vertriebsstrukturen im Filmbusineß vergleichen ließe. Und ich möchte auch nicht meine Arbeit zum Beispiel als Installation mit limitierter Stückzahl an irgendwelche Museen verkaufen und so künstlich eine Fake-Unikat-Originalität schaffen. Das widerspräche meiner Auffassung von Interaktion und würde hintenherum, über den Umweg der Vermarktung, wieder eine künstlerische Aura kostruieren, die ich eigentlich vermeiden will.

Derzeit arbeiten Sie an einem neuen interaktiven Film. Wird sich dieser „nur“ thematisch von den früheren Arbeiten unterscheiden oder versuchen Sie auch weiterhin, die Möglichkeiten der Interaktion zwischen Zuschauer und Monitor weiterzuentwickeln?

In meinem nächsten Film „March“ will ich versuchen, den amerikanischen Fundamentalismus dem islamischen gegenüberzustellen, u.a habe ich die Siegesparade der US-amerikanischen Truppen nach dem Golfkrieg gefilmt. Eine Geschichte, die meiner Ansicht nach das Wesen dieses Konfliktes ganz grundsätzlich thematisiert ist die Beziehung von Abraham und Isaak: was bringt jemanden dazu, sein Kind zu opfern, um einem Gesetz zu gehorchen? Für dieses Projekt möchte ich die sicher nicht ideale Interaktion eines einzelnen Zuschauers vor dem Monitor zugunsten einer Gruppeninteraktion verändern. Etwa vier bis fünf Leute sollen die Möglichkeit haben, das Geschehen auf dem Bildschirm entweder zusammen zu bestimmen, oder aber auch nicht – mir geht es darum, interaktives Kino als Gruppe erlebbar zu machen. Wie das genau funktionieren soll, weiß ich allerdings noch nicht genau.

Grahame Weinbren hält am Sonntag, den 4. 9., um 10 Uhr einen Vortrag mit Videoausschitten und Dias über interaktives Kino. Medienwerkstatt & Kommunales Kino Freiburg, Urachstr. 40, Tel: 0761/709 594.