Präzises Zeugnis

■ Kammerspiele: Toller Start mit „Der Kindermörder“

Jürgen Bartsch, der „Kirmesmörder“, ist durch den tragischen Operationsunfall, der zu seinem Tod führte, noch heute eine geradezu mystische Ikone in der Geschichte der Sexualverbrechen. Nach dem der mit 19 Jahren inhaftierte vierfache Jungen-Mörder zehn Jahre vergeblich um eine Therapie gekämpft hatte, entschloß er sich zu einer Kastration als letztes Mittel, um sich von seinem zwanghaften Trieb zu befreien. Durch einen Anästhesiefehler starb Bartsch 1976 auf dem Operationstisch.

Paul Moor, ein amerikanischer Journalist, der - neugierig auf die Geschichte und den Menschen Jürgen Bartsch - eine neunjährige Korrespondenz mit diesem unterhielt, dokumentierte später an Hand von Bartsch' Briefen die kleinbürgerliche Hölle, die das Adoptivkind eines Metzgerehepaares aus Essen mit 15 Jahren zum ersten Mord trieb. Aus diesen Briefen hat Oliver Reese ein Theaterstück entwickelt, daß als Gastspiel des Kölner Schauspiels am Sonnabend die erste Saison der Hamburger Kammerspiele unter dem neuen Leiter Gerd Schlesselmann eröffnete.

Das Solostück Kindermörder in der Regie von Uwe Hergenröder läßt Bartsch selbst erzählen. Im leeren Raum, nur bestückt mit drei, vier symbolischen Utensilien – ein gehäuteter Kuhschädel, eine Schaukel, Rasierzeug –, konzentriert sich die Inszenierung auf das Berichten. In fünf Komplexen – Familienleben, katholisches Internat, die kurze glückliche Zeit als Meßdiener, die Beschreibung der Taten und einer Reflexion Bartsch' über die Ursachen seiner Zwangshandlungen – entwickelt das Stück ein komplexes und erstickendes Bild des kleinbürgerlichen Grauens, dessen Resultat zwar noch entsetzt, aber nicht mehr viele Fragen offen läßt.

Durch die unglaublich präzise und klischeefreie Darstellung Werner Wölberns wird aus dieser Studie ein exemplarisches Zeugnis für den Übergang der krankhaften gesellschaftlichen Alltäglichkeit in die individuelle, pathologische Entfesselung von Lust durch Mord. Ein abwechselnd prügelnde und hätschelnde Mutter, die die Kontrolle über ihr Kind soweit treibt, daß sie selbst den 19jährigen Sohn nur selber wäscht, ein stumpfer Vater, der entweder schweigt oder brüllt oder ein katholischer Internatslehrer, der mit Gewalt Keuschheit predigt, um sich dann selbst an den Knaben zu vergehen, sind die prägenden Stationen einer Kindheit, die derartig in ihren Grundfester zerstört auch unüberwindbare Barrieren für die gesunde Kontaktaufnahme zu anderen Menschen bietet.

Ein derart ernsthaftes und klug ausgearbeitetes Stück ist ein wohltuender und hoffnungsvoller Beginn für eine neue Ära an den Kammerspielen. Till Briegleb