High-Tech-City statt verlängerter Werkbank

Hochtechnologie-Standort Berlin – eine taz-Serie (Teil 1): Wirtschaftsförderer werben jetzt schon mit dem erstklassigen Wissenschafts- und Forschungspotential der Stadt / Die Umsetzung in die Produktion steht aber erst am Anfang  ■ Von Hannes Koch

Berlin High-Tech-City wird im Osten gebaut. Wie ein Phönix aus der Asche des Sozialismus erheben sich dort bald glänzende Glas- und Stahltürme, in deren mit erstklassigem Gerät ausgestatteten Labore hochqualifizierte ForscherInnen die innovativen Produkte des dritten Jahrtausends entwickeln. So will es der Senat, das ist der Traum der Wirtschaftsförderer. Der Osten Berlins nicht als subventionsabhängiger Mezzogiorno mit tristen Überbleibseln vergangener Industrieepochen, sondern als blühende Landschaft der Laser-, Gen- und Computertechnik.

Dank des Erfindungsreichtums seiner WissenschaftlerInnen soll die Spree-Metropole die heute noch prosperierenden Regionen Bayerns und Baden-Württembergs weit hinter sich lassen. Berlins Wirtschaft gewinnt ihren internationalen Ruf nicht länger durch anderswo entwickelte Naßrasierer und Milchtüten, sondern wird mit selbstentwickelten Computerchips und Gentherapien der südostasiatischen und amerikanischen Weltmarktkonkurrenz das Fürchten lehren. Ein Zukunftsszenario, das die Industrie- und Handelskammer gerne entwirft.

Die größten Hoffnungen richten sich nicht von ungefähr auf die östlichen Bezirke der wiedervereinigten Stadt. Dort ereignete sich in den vergangenen Jahren der Kahlschlag, die DDR-Kombinate wurden ausnahmslos abgewickelt, Tausende von WissenschaftlerInnen nach Hause geschickt. Wertvolles Know-how liegt brach, Arbeitsplätze werden dringend benötigt. Und in der Tat sprießen dort reihenweise kleinere und mittlere Betriebe aus dem Boden, viele davon sogenannte „Ausgründungen“: ForscherInnen der ehemaligen DDR-Akademie der Wissenschaften machen sich mit einem Dutzend KollegInnen selbständig und frühere Kombinatsingenieure gründen eigene Unternehmen – gegenwärtig vom Senat mit Hunderten von Millionen Mark noch massiv unterstützt.

Wer nach den Standorten der Zukunft fragt, bekommt immer die gleichen Antworten: Im Forschungs- und Technologiepark Adlershof arbeiten heute schon 3.500 Beschäftigte in 145 Firmen und 15 außeruniversitären Forschungseinrichtungen. In zehn Jahren sollen es bis zu 30.000 Arbeitsplätze sein. Der Innovationspark Wuhlheide kann bislang 123 Firmen mit 1.500 Beschäftigten vorweisen. Ein Gewerbezentrum in Oberschöneweide und ein biomedizinischer Wissenschaftspark in Buch sind im Entstehen.

Zwar wird oft kritisiert, daß es der Großen Koalition und ihren Wirtschaftsförderern nicht gelingt, Berlin ein positives Image zu geben, doch zumindest ein Etikett, mit dem die Hauptstadt vermarktet werden soll, hat sich inzwischen herauskristallisiert: Wissenschaft, Forschung und Entwicklung seien Spitze hierzulande, was sich irgendwann auch im Aufschwung der Wirtschaft niederschlagen werde. Im Vergleich zu anderen Städten beherberge Berlin ein riesiges Potential an öffentlichen und privaten Forschungseinrichtungen, die jedem Unternehmen, das seinen Sitz an die Spree verlagere, bei der Entwicklung innovativer Produkte gerne zur Seite stünde.

In der Tat ist in West- und Ostberlin eine erstaunliche Zahl von Instituten und Wissenschaftseinrichtungen beheimatet. „Die einmalige Infrastruktur, die zum innovativen Motor des Strukturwandels der Industrie werden kann“, so Wirtschaftssenator Norbert Meisner (SPD), besteht heute aus etwa 250 staatlichen und privaten Forschungseinrichtungen, in denen 50.000 Beschäftigte, darunter 16.000 WissenschaftlerInnen, tätig sind. Nach Angaben von Günter Spur, Professor an der Technischen Universität, arbeiten in den außeruniversitären Forschungseinrichtungen Berlins mit 15.000 Leuten mehr als in ganz Nordrhein-Westfalen in diesem Bereich. 17 Hochschulen mit 140.000 StudentInnen machen Berlin vor München und Köln zum größten deutschen Hochschulstandort.

Gerne wird auf die Schwerpunkte der Berliner Forschungstätigkeit verwiesen. So nannte der Senat vor kurzem die Zahl von 85 Instituten, die sich mit der Entwicklung von Computer-Software beschäftigen, und Sozialsenatorin Ingrid Stahmer (SPD) summierte 180 gentechnische Anlagen. Berlin sei damit der größte Einzelstandort für Gen- und Biotechnologie in der BRD. So konnten sich MedizinerInnen des Virchow-Uniklinikums vor kurzem auch freuen, die erste gentherapeutische Behandlung gegen Krebs in deutschen Landen begonnen zu haben. Weitere Schwerpunkte sind die Laser- und Materialforschung.

Eine hervorragende Wissenschaftsinfrastruktur bringt aber nicht notwendigerweise Arbeitsplätze in der Industrie. Beschäftigung in größerem Umfang entsteht erst, wenn Grundlagenforschung in neue Produkte umgesetzt wird, die dann auch hergestellt werden. Dazu bedarf es oftmals einer engen Verbindung zwischen Forschungseinrichtungen und Herstellerfirmen. Doch gerade im Osten gibt es Probleme beim Technologietransfer, weil durch die Abwicklung der Kombinate die alten Beziehungen zerstört wurden. Unterhielten früher die meisten DDR-Firmen eigene Entwicklungsabteilungen, deren Ergebnisse schnell in der eigenen Fertigung realisiert werden konnten, müssen sich die ausgegründeten und heute entstehenden High- Tech-Betriebe oft erst mühsam neue Auftraggeber, Produzenten und Käufer suchen. Die neuen Zusammenhänge brauchen Jahre, bis Profit durch marktreife Produkte zu erwarten ist.

Im Westtteil der Stadt klaffen Forschung und Produktion ebenfalls auseinander. „Die Universitäten verstehen sich zu wenig als Dienstleiter. Oft ist die Marktnähe nicht vorhanden“, beklagt Technologie-Fachfrau Rita Neise von der Industrie- und Handelskammer. Die West-Unternehmen würden ihrerseits zu der Misere beitragen, weil sie sich forschungsmäßig nicht gerade ein Bein ausreißen. Die für Neuentwicklungen eingesetzten Finanzmittel seien an der Spree geringer als in anderen Regionen der Republik. Und das deutsche Patentamt in München läßt wissen, daß die Berliner EntwicklerInnen 1993 um die Hälfte weniger Patente anmeldeten als ihre KollegInnen in Baden-Württemberg.

Ein Grund dafür ist die in den siebziger und achtziger Jahren vollzogene Verlagerung ganzer Entwicklungsabteilungen der Industrie in den Westen der Bundesrepublik. Dank der speziellen Berlin-Subvention brachte hier die Massenfertigung auf verlängerten Werkbänken mehr Geld ein als die Erforschung neuer Produkte. Deshalb meint Jürgen Bäumer, Mitarbeiter der Technologie-Transferstelle der Freien Universität: „Es war nie einfach, einen Gegenpart in der Industrie zu finden.“ Oft hätten Uni-WissenschaftlerInnen interessante Sachen entdeckt, jedoch die Frage nicht beantworten können, an wen sie die Forschungsergebnisse eigentlich weiterreichen sollten.

Egal wie innovativ und konkurrenzfähig die Berliner Wirtschaft in Zukunft auf dem Weltmarkt auch sein mag – ohne Wermutstropfen ist der Hochtechnologie- Cocktail nicht zu haben. Der Abbau von Industriearbeitsplätzen seit 1990 ist so groß, daß „er durch Wissenschaft und Forschung allein nicht ausgeglichen werden kann“, weiß Holger Hübner, Sprecher des Wirtschaftssenators. Der Wirtschaftsbericht 1994 spricht eine deutliche Sprache: Mindestens 120.000 Stellen im verarbeitenden Gewerbe sind in den vergangenen vier Jahren verlorengegangen. Um diesen Aderlaß auszugleichen, müßten Bund und Land ihre Anstrengungen glatt verdoppeln, womit in Zeiten leerer Kassen aber nicht zu rechnen ist.

Dementsprechend wird die Hoffnung auf High-Tech gerne durch die Hoffnung auf Dienstleistung ergänzt. Ulrich Busch, Geschäftsführer der Entwicklungsgesellschaft Adlershof, setzt auf eine Art Kombinationseffekt: Wenn nationale und internationale Firmen wüßten, daß Berlin beste Voraussetzungen bei Forschung und Entwicklung biete, würden sie ihre Entwicklungslabors an die Spree verlegen, was wiederum die Konzernzentralen nach sich ziehe. Die gute Wissenschaftsinfrastruktur schaffe damit auch Arbeitsplätze im tertiären Sektor. Dieser Effekt ist bis heute jedoch nicht einmal ansatzweise spürbar. Wissenschaftsstaatssekretär Hans Heuer berichtete auf einer Tagung des Wissenschaftszentrums im Frühjahr, daß zum Beispiel die Zahl japanischer Firmenniederlassungen in Berlin rapide abnehme, anstatt zu steigen.

Die Serie wird am kommenden Freitag fortgesetzt