: Sinnproduzenten und die Sinnlosigkeit
In einer Tropfsteinhöhle im slowenischen Lipica erhielt der Sarajevoer Dichter Josip Osti an diesem Wochenende den internationalen Literaturpreis „Vilenica 94“. Die Redebeiträge hatten etwas von verzweifelten Bannflüchen ■ Von Jörg Lau
Eben erst ist einer der Dichter aufs Podest unter dem großen Baum im Burghof von Staniel geklettert, hat mit leichtem Zittern sein Blatt entfaltet und die ersten Zeilen ins Mikrofon gesprochen – „Der Engel versuchte ein Wort zu sagen. Er war der Engel einer Zeit/ Der Engel, den man seinen Engel heißt./ Es geschieht in schwarzer Zeit schwarze Glocke, die fast die Seele singt/ Die Glocke der Beruhigung ...“
Da beginnen auch schon die Glocken der benachbarten Burgkirche mit einem außerordentlich beruhigenden Zwölf-Uhr-Läuten und überschwemmen mit ihrem Getöse bald den ganzen Platz und die auf Wirtshausbänken hockende Festgesellschaft. Der Dichter stimmt – nach einer intensiven halben Schrecksekunde – in das allgemeine Gelächter ein. Wir lesen weiter im Manuskript: „Und auf die Lippen zwitschert stumm,/ Die Länge einer Zeit.“ Der slowenische Dichter Peršolja klettert von der Bühne. „Gib's zu, Aleksander, das hast du dir ausgedacht“, begrüßt man ihn. Eine schöne Belehrung über die Macht des Wortes.
Später am Abend dann sind Worte zu hören, die wohl schon oft von Preisträgern in solchen Momenten benutzt worden sind: „Ich fürchte“, sagt Josip Osti in seiner Dankesrede, „diesen Preis nur im Traum gewonnen zu haben.“
Der nächste Satz allerdings holt die Anwesenden aus dem Traumreich zurück, in das sie sich hier versetzt fühlen mögen; zum neunten Mal wird in diesem Jahr der „Internationale Literaturpreis Vilenica“ in einer Tropfsteinhöhle bei Lipica vergeben, die das Publikum wie eine riesige Kathedrale aus Softeis umschließt. „Und ich hoffe“, sagt Osti, „daß sich auch der Krieg in Sarajewo, wo ich herkomme, und wo meine schwerkranke Mutter immer noch lebt, als ein Traum erweist.“
Josip Osti, der diesjährige Preisträger des Internationalen Schriftstellertreffens, ist alles andere als ein Traumtänzer. Wenn er sagt, es fiele ihm in den letzten Jahren zunehmend schwerer zu unterscheiden, was Wirklichkeit und was Traum sei, so ist damit nichts anderes als die Erfahrung des Exilanten gemeint.
Das ist vielleicht der letzte Punkt, in dem die Künstler noch Stellvertreter, Repräsentanten sind in unserem Zeitalter der Flüchtlinge. (Alain Finkielkraut, der streitbare französische Philosoph, der leider nicht teilnehmen konnte, liefert in seinem Beitrag die Zahlen: 1970: zwei Millonen Flüchtlinge. 1993: achtzehn Millionen Flüchtlinge). Das Preiskomitee, das in den vergangenen Jahren schon die bekanntesten Autoren aus dem mitteleuropäischen Raum bekränzte – darunter Fulvio Tomizza, Peter Handke, Zbigniew Herbert, Milan Kundera, Jan Skatschel und Libuše Moníková – hat sich mit Osti erstmals zwar nicht für einen Einheimischen, aber doch für einen vor Ort – im nahen Ljubljana lebenden – Dichter entschieden. Daß Osti, der Kriegsflüchtling, nicht freiwillig hier lebt, ruft in Erinnerung, ins welchem Maße die moderne Literatur, ja die Kultur der Moderne überhaupt, eine Kultur des Exils ist.
Woran mag es wohl gelegen haben, daß die Podiumsdiskussion am Vortag so rein gar nichts erbrachte? Warum hatten die versammelten Intellektuellen nichts Erinnernswertes beizutragen zur Frage des Verhältnisses von Literatur und Gewalt? Vielleicht liegt die Antwort schon in dem von Max Horkheimer entlehnten Motto der Veranstaltung: „Sind Gewalt und Sinnlosigkeit nicht zuletzt ein und dasselbe?“ Die anwesenden Sinnproduzenten schienen das verständlicherweise so zu sehen; die Sinnlosigkeit, die sich nur ein paar Autostunden entfernt austobt, und 1991 auch hier in Slowenien zehn Tage lang ein Gastspiel gab, blieb ein Mysterium. Die Redebeiträge, soweit sie auch manchmal in die Geschichte der literarischen Gewaltdarstellung zurückgriffen, hatten am Ende etwas von verzweifelten Bannflüchen.
Da war viel die Rede von Mythos, Grausamkeit und Katharsis bei den alten Griechen, und die Geschichte „ethnischen Säuberungen“ wurde bis zu Andromache zurückverfolgt. Nicht nur der Schutz der Gelehrsamkeit wurde gerne aufgesucht, mancher fand auch Unterkunft bei den gebildeten Gemeinplätzen.
Es war die Rede von der Gewalt, die schon im bloßen Bezeichnen liegt – aber auch von der Gewalt, die aus Sprachlosigkeit entsteht; von der Gewalt aus versteifter Identität – aber auch von der Gewalt aus Unsicherheit, aus verweigerter Liebe; von der Gewalt aus dem TV – aber auch von jener, die sich von der volkstümlichen Mythologie nährt; von der Gewalt des Redens über den anderen – aber auch von der Gewalt, die den anderen zum Schweigen bringt, ihm die Sprache raubt. Man hätte manchmal gewünscht, die Glocke der Beruhigung wäre den Rednern ins Wort gefallen und hätte sie ganz gewaltfrei zum Schweigen gebracht.
Warum traute sich niemand zu erzählen? In den Pausen oder später an der Bar kamen die Geschichten heraus, die hierher gehört hätten. Eine Studentin aus Ljubljana erzählt zögernd und fast schon ein wenig ungläubig – „Drei Jahre ist das schon her!“ – vom Ausbruch des Krieges in Slowenien. Sie zählt ihre Freunde aus anderen Teilen Ex-Jugoslawiens auf. Das Ergebnis: niemand ist mehr da, alle sind ins Ausland, manche bis nach Kanada geflohen – die Bosnier vor den Serben, die Serben vor dem Kriegsdienst, der sie in den Kampf gegen die Bosnier zwang. Sie sei niemals gegen Jugoslawien gewesen, man habe gut gelebt in dieser Konstruktion, deren bewaffneter Arm sich dann plötzlich gegen einen richtete. Sie spricht fließend Deutsch, Französisch, Italienisch und Englisch; seit sie damals der Möglichkeit begegnete, allein aus dem Grund getötet zu werden, daß sie Slowenierin sei, fühlt sie sich als solche.
Man hörte auch die Geschichte von dem Mann, der als erster bemerkte, daß der Krieg in Slowenien begonnen hatte; bei der nächtlichen Heimfahrt per Fahrrad stieß er auf die Panzer der jugoslawischen Armee. Und dann die melodramatische Geschichte von einem Liebespaar im bosnischen Zenica, dem es nicht gelang, zwei Visa für das gleiche Land zu bekommen und das sich daher entschloß, in der umkämpften Stadt zu bleiben. Erzählt wurde sie von Goran Ignatije Jankovič, ihrem früheren Nachbarn, einem freundlichen jungen Punk, der Haikus und „postmoderne Prosa“ schreibt, und jetzt wie Osti im slowenischen Exil lebt.
Jemand sollte sich daran machen, diese Geschichten aufzuschreiben.
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