„Die Eltern stehen hinter mir“

■ Die Wiener Ärztin Marina Marcovich weist die Vorwürfe zurück

taz: Wie kamen Sie dazu, völlig neue Wege in der Neugeborenenmedizin zu gehen?

Marina Marcovich: Mit zunehmender Erfahrung wird man einfach mutiger – in der Wahrnehmung der Frühgeborenen, aber auch im Weglassen irgendwelcher ärztlicher Eingriffe. Man nimmt sich selbst nicht mehr so wichtig und sieht, daß man den Frühgeborenen viel mehr zutrauen kann. Außerdem spielt meine Liebe zu diesen Kindern und natürlich zu den Eltern eine wichtige Rolle. Das prägt die Umgangsweise.

Sie werfen manchen Kollegen vor, daß sie verlernt haben, mit ihren Sinnen zu arbeiten.

Das intuitive Erfassen eines Patienten ist in letzter Zeit verlorengegangen. Das heißt, ihn nicht aufgrund seiner Meßwerte zu beurteilen, sondern in seiner Persönlichkeit, Situation, in seinen Bedürfnissen stark in sich aufzunehmen. Damit das gelingt, muß seelische und natürlich auch körperliche Berührung stattfinden. Das bedeutet aber auch, daß man ein gleichberechtigtes Verhältnis zum Patienten anstreben muß. Ich muß als Arzt demütig sein können – gerade bei den Frühgeborenen, denn die können sich am wenigsten wehren.

Welche Rolle spielen die Eltern in Ihrem Modell?

Eltern sind Fachleute für ihr Kind. Sie können das Kind noch besser erfassen als wir, weil noch viel stärkere emotionale Ebenen vorhanden sind. Außerdem müssen wir die Kraft, die die Kinder durch ihre Eltern bekommen, uns zunutze machen.

...im Sinne, du wirst schon groß werden?

Ja. Wir müssen die Eltern sicher machen. Wir dürfen ihnen nicht die Zuversicht nehmen. Wir müssen bedenken: Mütter, die ihr Kind zu früh gebären, haben oft starke Schuldgefühle, weil es als die Aufgabe der Frau betrachtet wird, ein gesundes Kind zum Termin auszuliefern, und wann immer das nicht klappt, hat die Mutter das Gefühl, versagt zu haben. Ich glaube, daß die Herausforderung einem Menschen weiterhilft. Wenn ich immer sage, du kannst es nicht und ich mach' das schon für dich, dann mache ich den anderen klein. Aber wenn ich sage: es ist notwendig, daß du es jetzt schaffst, dann wächst der andere an seiner Aufgabe.

Mit Ihrer ärztlichen Haltung muß Sie doch der Vorwurf, Sie hätten Menschenversuche gemacht, ganz besonders treffen?

Man muß schauen, von wem dieser Vorwurf kommt. Es sind nicht die Eltern, die mich anklagen. Ganz im Gegenteil. Die stehen alle hinter mir. Es sind einige ärztliche Kollegen, die mich beschimpfen, weil ihnen selbst das Urvertrauen fehlt, die Liebesfähigkeit in der Begegnung mit dem Kind. Außerdem kann man mit einem Zuviel an Therapie mindestens genauso viel Schaden anrichten als mit Unterlassung.

Haben Sie also keine schlaflosen Nächte?

Nein. Verwundert das? Vielleicht ist die Angstfreiheit mit etwas, womit die anderen schlecht umgehen können. Denn normalerweise ist es so, wenn jemand vom System Druck bekommt, und ich habe extremen Druck gespürt – dann gibt er aus Angst um seinen Ruf, um Karriere oder Pfründe nach. Die Qualität der eigenen Arbeit wird nicht verändert, egal ob man jetzt von Hunderten beklatscht oder von Hunderten verdammt wird. Das ist doch nur eine Frage der persönlichen Eitelkeit. Es geht darum, daß unsere Methode weitergeht, und wenn ein paar tausend Kinder weniger im letzten Jahr beatmet worden sind und dadurch einen besseren Start ins Leben hatten, dann ist es das, was mich befriedigt.