„Wir verteilen den Überfluß“

Was andere Leute wegwerfen, ist den Frauen der „Berliner Tafel“ recht: Sie sammeln drittklassige Lebensmittel und schenken sie Obdachlosen und Straßenkindern  ■ Aus Berlin Thorsten Schmitz

Die drei Frauen führen ein Doppelleben, und das seit über einem Jahr. Sie verdienen ihr Geld als selbständige Unternehmerinnen und hätten eine zweite Existenz gar nicht nötig. Reina Mehnert, 36, besitzt ein Veranstaltungsbüro, Sabine Werth, 37, leitet einen privaten Familienpflegeservice mit 60 Mitarbeitern, und Ursula Kretzer, 46, reist als mobile Ärztin zu ihren Patienten.

Alle drei haben sich dennoch für einen Nebenjob entschieden. Der bringt ihnen nichts ein, außer Rechnungen für Benzin, Telefon und Porto, die sie auch noch aus eigener Tasche bezahlen müssen – und ansonsten Dankbarkeit. Mehnert und Werth haben eine Marktlücke entdeckt, die allerdings nicht nach den Gesetzmäßigkeiten der freien Wirtschaft funktioniert.

Im Februar letzten Jahres gründeten Reina Mehnert und Sabine Wehrt nach New Yorker Vorbild („City Harvest“) die „Berliner Tafel“. Seitdem schlüpfen sie und 40 Mitstreiterinnen in die Rolle weiblicher Robin Hoods.

Die Idee, die ihrem „Nebenverdienst“ zugrunde liegt, ist simpel, aber man muß erst mal darauf kommen: Sie lassen sich Obst, Gemüse, warme Mittagessen und Milchprodukte schenken und verschenken dies alles an täglich bis zu tausend hungrige Menschen weiter. An Obdachlose, Strichjungen vom Bahnhof Zoo, Aidskranke, verarmte Rentnerinnen, Wagenburg-Punks, Sozialhilfeempfänger. Die Frauen der Berliner Tafel fungieren als Umverteilerinnen von Lebensmitteln: Was den einen zuviel, ist den anderen gerade recht.

„Was haben wir denn heute Schönes?“

In der Praxis sieht das dann so aus: Montag früh, Großmarkt Berlin- Moabit. Wie professionelle Einkäufer prüfen Werth, Kretzer und Mehnert die Ware, die sich nicht mehr verkaufen läßt, weil die Deutschen mit den Augen essen. Insgesamt 302 Kilogramm reife Honigmelonen und französische Tafeläpfel, Champignons und Blumenkohl, Gemüsezwiebeln und Petersilie, Lauch und Bohnen erbeuten die Frauen auf ihrem Streifzug durch die Fruchthalle. Sabine Werth fragt jedesmal: „Was haben wir denn heute Schönes?“ Drei Großhändler bedienen sie inzwischen wie ihre zahlenden Kunden.

Eine Händlerin begrüßt die Frauen mit Handschlag. Und als wäre es die allergrößte Selbstverständlichkeit, läßt sie ihren Gabelstapler-Fahrer die 302 Kilogramm Obst und Gemüse zum VW- Transporter der Berliner Tafel bringen. Die Großhändlerin fasziniert die unentgeltliche Tatkraft der Unternehmerinnen: „Ich bewundere die“, sagt sie. Und bedauert, daß sie an diesem Montag „nichts hat“ an drittklassiger Ware. „Das ist im Vergleich zu sonst wirklich absolut wenig“, sagt Sabine Werth, „aber dafür, daß sie angeblich nichts hat, hat sie schon eine Menge.“ An manchen Tagen finden die Spürnasen der Berliner Tafel zwischen 800 und 1.000 Kilogramm. Wühlen stundenlang in geplatzten Tomaten und Pflaumen, reißen faule Lauchstreifen ab, trennen vertrocknete Petersilienblätter von frischen grünen. „Wir bringen ausschließlich handverlesene Waren in Umlauf“, sagt Sabine Werth. Reina Mehnert, die Tafel-Präsidentin, sieht ihre ehrenamtlichen Botengänge pragmatisch: „Wir verteilen den Überfluß, ganz einfach.“ Mit Wut im Bauch allerdings registriert sie, daß der Berliner Senat mit den kostenlosen Mahlzeiten den eigenen Haushalt zu sanieren sucht: Notunterkünfte, so Mehnert, erhielten inzwischen weniger Geld fürs Essen mit dem Argument: „Wir entlassen ja dafür niemanden.“

Mit halbvollem Lieferwagen fahren die Umverteilerinnen an diesem Morgen zum Berliner Flughafen Tegel. In einem Kühlhaus hat ein Lufthansa-Service-Koch fluguntaugliche Backware zum Abholen deponiert. Neben dem Luxus-Frühstück für Jordaniens König Hussein, das ihm auf seinem Flug nach Köln serviert werden soll, stehen zehn Plastikwannen mit Business-class-Brötchen vom Vorabend. Früher hat man die für Manager-Mägen geschmierten Putenbrust-Vierkornsemmeln weggeschmissen. Heute, Berliner Tafel sei Dank, machen sie Straßenkinder und Trebegänger satt.

Als die Frauen das Flugfeld verlassen wollen, piepst Sabine Werths Funktelefon. Ein Ökoladen in Kreuzberg hat abgelaufene Demeter-Tortellini und Vollkornspaghetti zu verschenken.

Vier Stunden dauert die Essenskollekte, das Verteilen noch mal halb so lang. Die Business-class- Häppchen liefern die Frauen an der Bahnhofsmission am Zoo ab, die Obdachlosen stopfen ihre Jackentaschen voll und sagen „Geil!“ Hausbesetzer in Berlin-Tiergarten kriegen zwei Kisten Äpfel und Birnen, ein Gemeindepfarrer Honigmelonen und Bananen. Die Nonnen eines Klosters in Downtown Kreuzberg entscheiden sich für Champignons und Lauch, am Abend werden sie das Ratatouille in ihrer Suppenküche den ortsansässigen Obdachlosen auftischen. „Wir beliefern die Leute, die uns früher angebettelt hätten“, sagt Reina Mehnert. Am liebsten würde sie jeden auf der Sraße ansprechen und fragen: „Haben Sie nicht was im Kühlschrank für uns?“

Auch Luxushotels spenden Lebensmittel

Inzwischen werden die Frauen angesprochen. Von Luxushotels und Drei-Sterne-Restaurants, Firmenkantinen und Unternehmen. Zwei große Berliner Hotels kochten sogar im Winter zusätzlich 60 Mahlzeiten täglich – für die, die noch nie in einem Hotelbett geschlafen haben. Und es kommt auch vor, daß die Frauen nachts von Partygastgebern angerufen werden und Büffet-Reste abtransportieren.

Wie weibliche Robin Hoods fühlen sich die Frauen eigentlich nicht. Robin Hood habe ja den Reichen etwas weggenommen, erklärt Sabine Werth, „und wir nehmen denen ja nichts weg. Die sparen durch uns ja eher noch, weil sie weniger Mülltonnen brauchen.“

Die dümmste Frage, die man den Frauen stellen kann, ist zugleich die häufigste: „Warum macht ihr das eigentlich?“