Europa - im Kern exklusiv?

■ Der wenig einfühlsame Vorschlag der CDU/CSU-Bundestagsfraktion für ein "Kerneuropa" als "Speerspitze" im Einigungsprozeß hat die europäischen Partner zusammenzucken lassen. So werten etwa italienische ...

Der wenig einfühlsame Vorschlag der CDU/CSU-Bundestagsfraktion für ein „Kerneuropa“ als „Speerspitze“ im Einigungsprozeß hat die europäischen Partner zusammenzucken lassen. So werten etwa italienische Politiker das Konzept als „dummes Wahlkampfmanöver“ oder „teutonische Großsprecherei“.

Europa – im Kern exklusiv?

Offiziell schweigt Brüssel zu den Vorschlägen der Bonner Unionsfraktion. Jede Partei habe das Recht, sich Gedanken über die Zukunft Europas zu machen, hieß es aus Kreisen der Europäischen Kommission zu den Überlegungen, innerhalb der größer werdenden Europäischen Union eine Kerngruppe mit Frankreich, Deutschland und den drei Beneluxstaaten Holland, Belgien und Luxemburg zu bilden. Diese fünf Länder sollten nach den Vorstellungen der außenpolitischen Vordenker von CDU und CSU besonders eng zusammenwachsen und so auf die anderen EU-Mitgliedsländer eine „Anziehungskraft“ ausüben. Die Kerngruppe sei für alle Mitglieder offen, versicherte Fraktionsvorsitzender Schäuble, wenn sie bestimmte Bedingungen erfüllten und „bestimmte Probleme“ zu Hause gelöst hätten. Die Bemerkung war besonders auf Großbritannien gemünzt. Schäuble ließ durchblicken, daß er London auf diese Weise herausfordern will, sich klarer zu Europa zu bekennen.

Das eigenartige Europapapier liegt seit Juni im Bonner Kühlschrank der Union. Bundeskanzler Kohl wollte es nicht unbedingt während der deutschen Ratspräsidentschaft in Brüssel auf den Markt gebracht sehen. Aber sein Fraktionschef wollte mitten im Wahlkampf offensichtlich nicht darauf verzichten, die populistischen Thesen eines um Deutschland gescharten „Kerneuropas“ unters Volk zu streuen. Auch in den anderen Ländern der Europäischen Union weiß man, daß in Deutschland Wahlkampf ist. Aber man weiß auch, daß die CDU/ CSU-Fraktion die führende Regierungspartei des größten Mitgliedslandes ist, das zufällig zur Zeit den Vorsitz im Ministerrat hat.

Die heftigsten Reaktionen kamen bisher aus Italien und Großbritannien, aber auch in anderen Ländern zuckten die Regierungen zusammen. Unter Außenminister Klaus Kinkel, der die europäischen Partner gerne darauf hinweist, daß „wir als größtes Land der EU“ auch etwas mehr zu sagen hätten, hat sich die Bundesrepublik in der Europäischen Union den Ruf erworben, die Führungsrolle übernehmen zu wollen. Schäubles Hinweis, andere Länder brauchten doch nur „bestimmte Bedingungen“ zu erfüllen, um in die Kerngruppe aufgenommen zu werden, hat die Ängste geschürt, die Deutschen wollten die Nachbarn wieder herumkommandieren.

Es ist vermutlich die wenig einfühlsame Art, als Wahlkampfschlager einen rüden Umgang mit den Partnerländern zu propagieren, die für Unruhe sorgt. Dabei hat die Unionsfraktion ihre Überlegungen offensichtlich mit der konservativen Regierungskoalition in Paris abgesprochen. Wenige Tage vor Schäubles Vorstoß hatte Premierminister Eduard Balladur in einem Zeitungsinterview ein „Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten“ angekündigt. Und auch der französische Außenminister Alain Juppé hat noch am Donnerstag hervorgehoben, daß nicht alle Länder in eine künftig erweiterte EU in gleicher Weise eingebunden sein könnten. Aber Balladur und Juppé kleideten ihre Anstöße in diplomatische Wendungen, die Raum für Diskussionen geben, ohne jemanden vor den Kopf zu stoßen.

Die Vision vom einheitlichen Europa, in dem alle Mitgliedsstaaten mit gleichen Rechten und Pflichten mitgehen können, ist spätestens seit dem Zusammenbruch des Ostblocks in ziemlich weite Ferne gerückt. Im Grunde hat bereits der Maastrichter Vertrag dieser Realität Rechnung getragen. Die Währungsunion mit ihren abgestimmten Aufnahmeprüfungen 1996 und 1999 war nichts anderes als der Startschuß für ein Kerneuropa der wirtschaftlich starken Staaten, um das sich der Binnenmarkt mit den übrigen Mitgliedern gruppiert. Auch das in Maastricht formulierte Zugeständnis an London, sich vorerst nicht an den sozialen Regeln zu beteiligen und seine Arbeiter billiger, länger und ungeschützter arbeiten zu lassen, ist ein Abschied vom einheitlich integrierten Europa. Die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik sowie die einheitliche Innen- und Justizpolitik, wie sie ebenfalls in Maastricht verabschiedet wurden, stehen dazu nur scheinbar im Widerspruch. Die Außenpolitik ist bisher über die Entsendung von Wahlbeobachtern nach Südafrika, Rußland und sonstwohin kaum hinausgekommen. Und dort, wo die gemeinsame Innenpolitik diesen Namen verdient, im umstrittenen Schengener Abkommen, ist sie nicht wirklich europäisch, sondern auf ein Kerneuropa beschränkt. Dänemark, Irland und Großbritannien nehmen am Schengener Abkommen nicht teil.

Für 1996 ist eine Regierungskonferenz angesetzt, bei der sämtliche Institutionen und Regeln des Maastrichter Vertrages auf den Prüfstand gestellt und nach Bedarf verändert werden sollen. Es gibt zwei Richtungen, in die zur Zeit gedacht wird. Die eine, die französische Denkrichtung, heißt Vertiefung, also engeres Zusammenwachsen weniger Staaten. Dagegen wird vorwiegend von der deutschen Regierung die Erweiterung in den Vordergrund gestellt, die Aufnahme der mittel- und osteuropäischen Staaten, um die europäische Stabilität zu fördern. Der Kompromiß kann eigentlich nur in einem Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten bestehen, in einem engen Verbund einiger nahestehender Länder und einem Netz von Beziehungen zu den Nachbarn. Bisher wurde offengelassen, ob die derzeitigen EU-Mitglieder automatisch zum engeren Kreis gehören sollen oder ob einige von ihnen in den äußeren Kreis abgeschoben werden. Schäuble & Co. haben die Diskussion eröffnet. Alois Berger, Brüssel