„Schweig still, es ist Dein Bruder...“

■ Kirchenfrauen halten Predigtreihe zum Thema Gewalt gegen Frauen / „Männertheologie aufgesessen und verdrängt“

Neue Töne in einer Kirche: „Ich glaube an Gott, der Frau und Mann zum Ebenbild schuf...“. murmelten am Sonntag morgen 35 Frauen und fünf Männer als „neues“ Glaubensbekenntnis in der Evangelischen Heilig-Geist-Gemeinde in der Vahr. Es war der dritte Gottesdienst aus der Reihe „Mauern des Schweigens um Gewalt brechen“ – eine Predigtreihe, die Gewalt gegen Frauen thematisiert.

„Je mehr ich mich mit dieser Thematik beschäftige, umso mehr merke ich, wie ich einer Männertheologie aufgesessen bin und bei dem Verdrängungsprozeß in der Kirche selber mitgemacht habe“, so Jutta Blanke, Pastorin der Heilig-Geist-Gemeinde. Anlaß für diese Initiaive war zunächst Jutta Blankes eigene Betroffenheit: Im letzten Winter wurde sie in seelsorgerischen Gesprächen zunehmend mit Gewaltübergriffen gegen Frauen konfrontiert. „Bis dahin wußte ich nur theoretisch, daß es körperliche Gewalt gegen Frauen gibt, es war mir nie menschlich dicht. Dann zog ein einziges Meer von Gewalt immer weiter in meinen persönlichen Lebensbereich.“ Im Schnitt kommt einmal pro Woche eine Frau wegen Gewalt in der Familie zu Jutta Blanke. „Da ist die ganze Palette vertreten: Prügel, Mißbrauch, Vergewaltigung, Inzest.“ Sie hält ihre Gemeinde damit keineswegs für eine Ausnahme: „Zwar herrschen hier schlechte Lebensbedingungen, doch findet sich Gewalt gegen Frauen überall.“

Angeregt durch ein Buch der Stuttgarter Theologin Hildegunde Wöller ( „Vom Vater verwundet – Töchter der Bibel“) initierte Jutta Blanke in ihrer Gemeinde die Predigtreihe „Gegen Mauern des Schweigens predigen“. In Zusammenarbeit mit dem katholischen „Arbeitskreis Frau in Kirche und Gesellschaft“ bereitete die Pastorin vier Gottesdienste mit anschließender Diskussionsrunde vor.

Auftakt war vor zwei Wochen Jutta Blankes Predigt über Thamar, eine Tochter Davids, die von ihrem Bruder Amnon vergewaltigt worden ist (s. Kasten). Bibelgeschichten um Gewalt gegen Frauen wurden in ihrer Ausbildung zur Pastorin meist überlesen, fällt Jutta Blanke heute auf. So wurde sich damals bei diesem Teil des alten Testaments nur mit der Trauer Davids um seinen verlorenen Sohn, nicht aber mit dem Inzest beschäftigt.

In ihrer Predigt hingegen betonte Pastorin Blanke die Verbrechen in allen Einzelheiten, beschrieb ihre eigene Sprach- und Hilflosigkeit zu diesem Thema, und: „Der erste Schritt ist, das Schweigen zu durchbrechen, eine gemeinsame Klage zu formulieren“. Da scheint Jutta Blanke ihrer katholischen Kollegin Angelika Strothmann deutlich voraus zu sein. In ihren Ausführungen um die alttestamentarische Figur Esther hob die Pastoralassistentin z.B. hervor, daß Esther innerhalb der bestehenden Strukturen geblieben war und dort „ihre eigenen Wünsche“ verwirklichte. Was jedoch auf der Strecke blieb, war die entscheidende Feststellung, daß „ihre eigenen Wünsche“ gar nicht die ihrigen, sondern die ihres Pflegevaters waren. Strothmann verstieg sich gar dazu, Hildegunde Wöllers These, Esther habe sich völlig in die patriarchale Struktur eingefügt, als „naive Frage“ zu bezeichnen. Als sie in der dem Gottesdienst folgenden Gesprächsrunde heftig kritisiert wurde, relativierte sie ihre Ausführungen; im ihrer Predigt machte sie hingegen den Eindruck, daß ihre eigene Auseinandersetzung mit struktureller Gewalt aus feministischer Sicht nur sehr begrenzt stattgefunden hat, womit sie das Negativimage der katholischen Kirche bestätigte.

Nichtsdestotrotz führt die Predigtreihe zu einer Enttabuisierung des Themas „Gewalt gegen Frauen“ und zeigt die Notwendigkeit, es auch innerhalb der Kirche zu thematisieren: Dreiviertel der BesucherInnen des Gottesdienstes kamen aus anderen Gemeinden, fast alle blieben noch zur Gesprächsrunde. Viele waren betroffen, einzelnen kamen die Tränen; einige Frauen, vor allem katholische, betonten, daß sie sich zum erstem Mal seit langer Zeit wieder in der Kirche aufgehoben gefühlt hätten. Die Diskussion mutete manchmal wie ein AnfängerInnenkurs in Feminismus an, doch sollte ein solcher Anspruch bisher auch gar nicht erfüllt werden: Die Initiative von Jutta Blanke versteht sich als Anfang, dessen erstes Ziel lautet, das Schweigen zu brechen. Sie favorisiert aber auch eine Rund-um-die-Uhr-Anlaufstelle für mißbrauchte Frauen, wie es sie bereits in Berlin-Kreuzberg gibt: „Vielleicht schaffen wir es ja, auch für Bremen eine solche Stelle zu bekommen, für die Frauen und Männer sich gleichermaßen einsetzen.“

Ab dem 22. September soll Gewalt gegen Frauen in einem offenen Arbeitskreis weiter thematisiert werden. Zunächst wird jedoch am kommenden Sonntag Hildegunde Wöller im Rahmen des Gottesdienstes über die Samariterin des Neuen Testaments sprechen. „Das Patriachat ist ein Syndrom, das alle Schichten der Frau verdirbt“, schreibt Wöller in ihrem kirchenkritischen Buch, „auf dem mühsamen Weg nach ihrer Befreiung wird immer deutlicher, daß die Frage nach ihrer Identität im Kern eine religiöse Frage ist.“

„Stützen wir die patriarchalische Kirche nicht vielleicht mehr, als uns bewußt ist?“, merkte Jutta Blanke am Ende der eineinhalbstündigen Diskussionsrunde an: „Wir wünschen uns, eine andere Kirche zu finden, in der eine Frauenkirche sichtbar wird.“

Heidi Roß

Hildegard Wöller in der ev. Heilig Geist Gemeinde (August-Bebel-Allee), 11.9., 10 Uhr