Zapfenstreich mit begleitender Prosa

■ Die Gruppe „Tunnel über der Spree“ tagte im Literarischen Colloquium Berlin

Einen „Kongreß zur Verteidigung der deutschen Literatur gegenüber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung “, nannte Peter Hamm auf der öffentlichen Abschlußveranstaltung das zweitägige Autorentreffen „Tunnel über der Spree“. Tatsächlich hatten vier Referenten den dreißig deutschen Autorinnen und Autoren im „Literarischen Colloquium Berlin“ Mut zugesprochen und Balsam auf Wunden gestrichen, von denen sie meinten, sie müßten seit einem Jahr schwären.

Dazumal, mitten im Sommerloch 1993, hatte der S.-Fischer- Lektor Uwe Wittstock geklagt, die deutsche Literatur sei langweilig; statt spannend wie die Amerikaner zu erzählen, treibe sie nichts anderes als formale Experimente. Im Herbst desselben Jahres suchte Frank Schirrmacher, damals Feuilletonchef der FAZ, den Erzähler in Wolfgang Hilbigs „Ich“. Weil er ihn nicht fand, erklärte er den Roman kurzum zu einem avantgardistischen und also als solchen für gescheitert.

Gegen beide zugleich zogen nun je zwei Literaturkritiker und Wissenschaftler zu Felde. Anfangs fanden sie damit auch einigen Widerhall im „Tunnel“. In gewohnter Eleganz käute Andreas Isenschmid die Positionen der Debatte wider und hob dann zu einem „Kleinen Lob der Langeweile“ an, Wittstocks Vorwurf positiv wendend. Elisabeth Lenks Exegese der offensichtlich kanonischen Hilbig- Rezension entlarvte Schirrmacher als Kritiker moderner Dekadenz und rief ihn zum Dogmatiker „des kapitalistischen Realismus“ aus. „Reglementierender Gottsched“ nannte Sibylle Cramer dessen Nachfolger und dechiffrierte das Frankfurter Allgemeine als Repression des Besonderen: Die Vereinigung Deutschlands werde auf dem Felde der Literatur wiederholt. Da wurde es den versammelten Solitären allmählich doch zu bunt.

Den Kopf in die Zeitung stecken

Gemäßigte „Wittstockianer“ erhoben ihr Haupt, Mitarbeiter des angegriffenen Feuilletons offenbarten sich, und manche bekannten, hin und wieder den Kopf in eben diese Zeitung zu stecken. Die „Vielgestaltigkeit der Literatur“, von Sibylle Cramer beschworen gegen die Tyrannis Frankfurter Allgemeiner Zurichtungen, wehrte sich gegen alle gleichzeitigen Versuche, zur Einheitsfront gegen eben diese „Präzeptoren“ modelliert zu werden.

Das vierte Referat war dennoch schnell überstanden. Reinhard Knodt, das letzte Opfer offenbar unklarer Themenabsprachen, strich dankenswerterweise seine Schirrmacher-Interpretation. Dadurch trat allerdings die ganze Dürftigkeit seiner Argumentation hervor: Schriftsteller, unternehmt Fernreisen für die Erfahrung realer Präsenz in einer technisch vermittelten Welt! Aha, ein „globaler Bitterfelder Weg“, kommentierte Adolf Endler.

Erst nach diesem Zapfenstreich begann der Auftritt der Schriftstellerinnen und Schriftsteller: Von Freitag nachmittag bis Samstag abend vertauschten achtzehn Autorinnen und Autoren ihren Platz zeitweise mit dem am Fenster, um sich mit Unveröffentlichtem der Kritik zu stellen; die große Überraschung dieses Lesemarathons war die Kurzprosa der erst 23jährigen Kathrin Röggla.

Beim „kollegialen Gespräch unter Freuden“ allerdings, das „Tunnel“-Initiator Hans Christoph Buch als Zweck des seit 1991 jährlich stattfindenden Autorentreffens benannt hatte, blieb es nicht: In einer offenen und entspannten Arbeitsatmosphäre wurde herzhaft gelacht, über den grünen Klee gelobt und kopfschüttelnd gescholten.

Am präzisesten fielen die handwerklichen Urteile aus. Fragen der Erzählperspektive, der psychologischen Glaubwürdigkeit oder der naturwissenschaftlichen Faktentreue kehrten immer wieder, kritisiert wurden Metaphern und Adjektive. Vergessen waren die von den Referenten zumindest gestreiften Fragen von Langeweile und Spannung, Avantgarde und Arrièregarde sowie das Verhältnis der Literatur zur Literaturkritik. Es schien, als hätten die Referate nur zum Anwärmen, die Referenten nur als Sparringspartner gedient.

Samstag dann nahm die Erschöpfung zu und mit ihr die Sprachlosigkeit. Gert Neumann erinnerte zwar in einem sehr persönlichen Kommentar zu Arbeitsschwierigkeiten daran, daß sich der „Tunnel 1991“ der deutsch-deutschen Annäherung verschrieben hatte. Doch das Moment des Gesprächs, stellte Neumann in seiner schüchtern-unnachgiebigen Art fest, sei ziemlich fern in diesem Gespräch. Da war es wieder, das Gespenst des deutschen Literaten, der sich mit der ach so spannenden Verdoppelung der Welt nicht begnügt, sondern nach der „Berührung der Wahrheit“ (Neumann) trachtet. Schon vorher war dieses Gespenst im Raum umhergegangen: Als Hans Ulrich Treichel bat, doch ein wenig über das Symptom FAZ hinauszudenken und sich zu fragen, was die Marginalisierung der Literatur, was die eigene Fixierung auf das „FAZ-Trauma“ bedeute. Wären sich diese beiden Enden des „Tunnels“ begegnet, die Reflexion des Selbstverständnisses und das Werkstattgespräch, es hätte sehr hell werden können. Jörg Plath