Spielgeld allein reicht nicht

Trotz erfolgreicher Privatisierungspolitik sieht sich Tschechiens Premier Klaus zunehmender Kritik sowohl von rechts als links ausgesetzt  ■ Aus Prag Sabine Herre

Miloš Zeman ist zu bedauern. Der Vorsitzende der Sozialdemokraten hat es als Führer der tschechischen Opposition nicht gerade leicht. Denn in diesem Musterland der osteuropäischen Transformation scheint es derzeit fast nichts zu geben, was sich kritisieren ließe. Die Arbeitslosenrate liegt weiterhin bei 3,1 Prozent, die monatliche Inflation betrug im Juni 0,7 Prozent, die Außenhandelsbilanz ist ebenso ausgeglichen wie der Staatshaushalt.

Und wenn die derzeit laufende zweite „Welle“ der Kuponprivatisierung (siehe nebenstehenden Kasten) in wenigen Wochen abgeschlossen sein wird, soll damit für die Tschechische Republik auch die Periode des ökonomischen Umbaus zu Ende gehen. So zumindest steht es im Terminkalender von Ministerpräsident Václav Klaus.

Ohne Zweifel ist der reibungslose Verlauf der Kuponprivatisierung Václav Klaus' größter Erfolg. Wer in einem der Postämter der Republik die zukünftigen Aktienbesitzer bei der Abgabe ihrer Berechtigungsscheine beobachtet, kann unschwer feststellen, wie groß die Akzeptanz für diese neue Form der Vergesellschaftung staatlichen Eigentums ist. Das Studium der seitenlangen Verzeichnisse Aktienkurse ist für die TschechInnen inzwischen zur Routine geworden. Nichts errinnert mehr an die aufgeregten Diskussionen, die den Beginn der Kuponprivatisierung vor zwei Jahren begleiteten. Damals hatten die Kritiker erwartet, daß die Kuponaktionäre den Gewinn-Versprechungen eines großen Investitionsfonds auf den Leim gehen und ihre Aktien sofort nach Erhalt an diesen verkaufen würden. Daß es dazu nicht kam, zeigt, daß die Bevölkerung der Tschechischen Republik an den vielfach von der Opposition prognostizierten Zusammenbruch der heimischen Industrie nicht glaubte.

Die tschechischen Regierungsökonomen hatten sich für die Kuponprivatisierung entschieden, weil sie sie für eine der schnellsten Methoden der Veränderung der Besitzverhältnisse hielten. Tatsächlich erwirtschaften die in der ersten Kuponwelle privatisierten Staatsbetriebe gemeinsam mit dem hundertprozentig privatisierten Dienstleistungssektor sowie neu entstandenen privaten Unternehmen heute bereits über 50 Prozent des Bruttoinlandsprodukts; nach Abschluß der zweiten Welle soll dieser Anteil 80 Prozent des BIP betragen.

„Wir schieben die Probleme vor uns her“

Bei der Kuponprivatisierung setzt aber auch die Kritik von Miloš Zeman und anderen Politikern der linken Opposition an. Ihrer Ansicht nach trägt eine bloße Änderung der Besitzverhältnisse noch nicht zu einer Änderung der Unternehmenspolitik bei. Während Klaus die Phase der Restrukturierung stets nach der Periode der Privatisierung anordnete, sind seine Kritiker der Überzeugung, daß die Vernachlässigung der mikroökonomischen Ebene bald auch die makroökonomische Stabilität bedrohen wird. Miloš Zeman: „Wir schieben die Probleme vor uns her.“

Inzwischen wird Klaus' Privatisierungspolitik aber auch von rechts kritisiert. Die Regierung, so heißt es, greife weiterhin stark in Wirtschaftsprozesse ein, die eigentlich dem „freien Spiel der marktwirschaftlichen Kräfte“ überlassen bleiben müßten. Der Ministerpräsident gäbe sich zwar als Thatcherist aus, in Wirklichkeit tendiere die tschechische Ökonomie jedoch zu einer sozialen Marktwirtschaft. Linke und Rechte sehen fünf Problembereiche, die der tschechischen Wirtschaft zusetzen werden.

1. Der staatliche Sektor. Der Anteil des Staates an den großen Banken und ihren Investitionsfonds ist nach Ansicht der rechten Opposition weiterhin zu hoch. Zumal auch der „Fonds des nationalen Eigentums“ an allen mit Kupons privatisierten Betrieben einen geringfügigen Aktienanteil für sich behalten hat. Der Generaldirektor des Industrieverbands, Břetislav Ošťádal: „Die staatliche Verwaltung ist gar nicht in der Lage, ihre Aufgabe als Eigentümer mehrerer hundert Unternehmen wahrzunehmen.“ Die Regierung beantwortet die Vorwürfe in der Regel mit dem lapidaren Hinweis, daß dies in Ländern Westeuropas schließlich auch nicht anders sei. Außerdem sei für die Zukunft die weitere Verringerung der staatlichen Anteile geplant.

2. Fehlendes Kapital. Die Kuponprivatisierung bringt kein neues Kapital in die Betriebe. Deshalb ist es besser, sie an in- oder ausländische Interessenten zu verkaufen. So lautete bereits vor zwei Jahren die Kritik an der von Klaus gewählten Methode. Tatsächlich hatte die Regierung daraufhin ihr Konzept verändert und für jeden Betrieb ein Schema erarbeitet, das verschiedene Methoden der Privatisierung miteinander verband. So wurden manche Unternehmen zu 96 Prozent, andere nur zu 20 Prozent mit Hilfe der Kupons privatisiert. Kapitalmangel ist jedoch weiterhin vor allem wegen der hohen Zinsen der Banken ein Problem.

3. Anstieg der Arbeitslosenrate. Weitgehend einig sind sich Regierung und Opposition in der Ansicht, daß es nach dem Ende der Kuponprivatisierung zu einem Anwachsen der Arbeitslosenquote auf mindestens fünf Prozent kommen wird, da die Betriebe von den neuen Eigentümern zu Umstrukturierungsmaßnahmen und damit auch Entlassungen gezwungen würden. Milan Matejka von der Prager Hochschule für Ökonomie: „In vielen Fabriken wird doch immer noch so ,gearbeitet‘ wie unter den Kommunisten. Die Menschen sitzen ihre Arbeitszeit ab, produziert wird fast nichts.“ Die OECD rechnet allerdings nicht damit, daß die tschechische Rate auch nur annähernd an Werte in Polen (18 Prozent) oder Ungarn (11 Prozent) herankommen wird.

In Prag herrscht Arbeitskräftemangel

Die Statistiken der tschechischen Arbeitsämter zeigen, daß seit der Revolution 1,2 Millionen und damit 25 Prozent der Beschäftigten ihre Arbeitsstelle gewechselt haben. Die Industriegiganten scheinen die größten Entlassungen bereits hinter sich zu haben. Zum Beispiel hat der Škoda-Konzern Plzeň die Zahl seiner Beschäftigten seit 1990 auf 20.000 halbiert. Neue Arbeitsmöglichkeiten entstanden vor allem im Dienstleistungssektor. In Prag herrscht inzwischen Arbeitskräftemangel, es fehlen nicht nur Führungskräfte, sondern auch VerkäuferInnen und FacharbeiterInnen.

4. Stagnierende Industrieproduktion. Der wichtigste Kritikpunkt der linken Opposition ist die Vernachlässigung der Industriepolitik. Zwischen 1989 und 1993 sei die Industrieproduktion um 40 Prozent gesunken, neue Wohnungen würden praktisch nicht mehr fertiggestellt. Aber auch der Verband der Unternehmer kritisiert die Regierung. Von den angekündigten Maßnahmen zur Förderung des Exports sei nichts verwirklicht worden, die neugegründeten Unternehmen würden zuwenig unterstützt.

Diesen Argumenten hat die Regierung wenig entgegenzusetzen. Auch in den ersten Monaten dieses Jahres verzeichnete der Bausektor nur ein leichtes Wachstum, die Industrieproduktion blieb weitgehend konstant. Zwar betont Klaus immer wieder, daß diese Zahlen wenig Aussagekraft hätten, das geringste Anzeichen für einen Aufschwung wird von ihm jedoch überschwenglich begrüßt.

5. Firmenpleiten. Nach dem Ende der Planwirtschaft galt es als unbestritten, daß viele Betriebe unter den Bedingungen der Marktwirtschaft keine Überlebenschance haben würden. Dennoch kam es in der ganzen Tschechischen Republik bisher nur zu 150 Pleiten, und diese betrafen ausschließlich kleine und mittlere Unternehmen.

Die niedrige Zahl läßt sich jedoch vor allem mit der aktiven „Anti-Bankrott-Politik“ der Prager Regierung erklären. Wirtschaftsminister Karel Dyba: „In einer funktionierenden Marktwirtschaft beschränkt sich der Staat auf die gesetzliche Regelung des Bankrottverfahrens. Unsere augenblickliche Transformationssituation erlaubt das nicht. Der Staat muß eine Bankrottlawine, die auch die Banken in Mitleidenschaft ziehen könnte, verhindern.“

Eine wichtige Rolle bei der Bankrott-Verhinderung spielte die im Februar 1991 vom Finanzministerium gegründete „Konsolidierungsbank“, die Schulden und Ausstände der Betriebe mit Hilfe eines speziell hierfür entwickelten Computerprogramms gegeneinander verrechnete. Zudem konnten, so Minister Dyba, durch Umstrukturierungsmaßnahmen unrentable Betriebsteile aus eigentlich aussichtsreichen Unternehmen ausgegliedert werden.

Kritik geht in allgemeiner Euphorie unter

Viele Klaus-Kritiker sahen in diesen Maßnahmen jedoch nur ein Hinauszögern unumgänglicher Betriebsschließungen. Sie verweisen darauf, daß die Höhe unbeglichener Rechnungen bei 70 Milliarden Kronen (4 Milliarden Mark) liegt. Bei einer statistischen Erhebung hätten sich von 881 befragten Betrieben 56 Prozent als zahlungsunfähig bezeichnet.

Die Kritik der tschechischen Opposition wird im Land freilich kaum wahrgenommen, sie geht im allgemeinen medialen Jubel über die Erfolge der wirtschaftlichen Transformation unter. Auch wenn der Anteil der sozialdemokratischen Wähler im letzen Jahr von acht auf 13 Prozent wuchs, der Anteil derjenigen, die mit der wirtschaftlichen Entwicklung zufrieden sind, stieg zwischen September 1993 und April 1994 von 25 auf 33 Prozent.

Rechte und linke Opposition leiden zudem durch die von den Meinungsforschern diagnostizierte „Spaltung des tschechischen Bewußtseins“: Während einerseits das Ziel einer sozialen und ökologischen Marktwirtschaft auf einer theoretischen Ebene kritisiert wird, hat die Bevölkerung des früher kommunistisch regierten Landes andererseits natürlich ein reales Interesse an der Fortsetzung der Mietpreisbindung und anderer sozialer Leistungen des Staates. Václav Klaus dürfte somit auf Erfolgskurs bleiben. Mit liberaler Rhetorik und vorsichtigen Eingriffen in die Wirtschaft bestimmt er Bewußtsein und Sein der tschechischen Bevölkerung.