Lautlose Plaudereien

Epressiv und lyrisch: Das Gebärdensprachfestival in Berlin  ■ Von Thorsten Schmitz

Hamlet trägt schwarze Levis- Jeans, Marke 501, und ein butterbeiges Rüschenhemd. Seine dunkelbraunen Haare fallen ihm glatt auf die Schultern, und wenn nicht alles täuscht, hat er seine Lippen mit etwas Rot aufgepeppt und die Wangenknochen geweißt.

Mit schmerzhaft verzogenem Gesicht monologisiert Hamlet sein „Sein oder Nichtsein“, denn der eigene Bruder hat Hamlets Vater, König von Dänemark, umgebracht. Die Seelenqual in seiner Brust konturiert Hamlet, bürgerlicher Name: Simon, indem er mit großem Pathos sein Herz drückt. Wenn er die Grenze zum Wahnsinn fühlt, nimmt er mit seinen Händen den Kopf in die Zange. Wenn er lächelt, schimmert sein ganzes Gesicht, als habe ihn eine höhere Macht im Griff.

So einen Hamlet hat die Welt noch nicht gesehen, denn er spricht kein Wort. Simon kann nicht hören und nicht sprechen. Shakespeares Tragödie hat er in nächtelanger Detailarbeit in seine Sprache übersetzt. In Körpersprache. Wenn er redet, gebärdet er. Er gestikuliert und mimt mit Mund und Augen. Formvollendet.

Als Simon, 26, seinen Monolog beendet, sind die 1.000 zuschauenden Menschen im Berliner Haus der Kulturen der Welt verzaubert, fasziniert – und niemand applaudiert. Das würde Simon sowieso nicht hören. Dafür sieht er 2.000 hochgereckte Arme und 2.000 schüttelnde Hände. So applaudieren Taubstumme, und es ist dabei mucksmäuschenstill.

Garantiert hätte Simon für seinen fulminanten Auftritt einen Preis gewonnen beim zweiten Berliner Gebärdensprachfestival, das am Wochenende Taubstumme aus dem In- und Ausland beguckt haben. Am Wettbewerb indes nahm er nicht teil, sein Hamlet war Pausenfüller, Güteklasse A.

Das Festival ist eine Art San Remo für Menschen, die die gesprochene Sprache allenfalls lesen können. Den meisten allerdings ist auch die Lektüre einer Zeitung nicht vergönnt. Die taz etwa, da ist sich die Chefredakteurin einer Gehörlosenzeitung sicher, „liest garantiert kein Taubstummer“. Die taz-Sprache sei „zu kompliziert“.

In Deutschland leben rund 80.000 Menschen in einer Stille, nach der sich Hörende mitunter sehnen. 18 Männer und Frauen wagten am vergangenen Samstag abend den Schritt ins Rampenlicht und vors Publikum. Und gebärdeten wie wild zwischen drei und vier Minuten über ein frei gewähltes Thema. Das kurze Aufflackern einer Taschenlampe signalisierte ihnen: Deine Zeit zum Gebärden ist abgelaufen. Weil gebärden ein scheußliches Wort ist, nennen Gehörlose ihre Sprache lieber: plaudern.

So plauderten sie also fast alle ohne Lampenfieber über „Die Schildkröte hat Geburtstag“ oder „Wenn ein Politiker träumt“, hielten Vorträge über „Die Zeit“ und „Erfolg ohne Last“. Wobei sich unter den paar Zuhörenden das Gefühl von Tonstörung breitmachte. Denn die Wettbewerbsbeiträge wurden nicht von den zwei Dolmetscherinnen vertont. Nur die geniale Moderatorenkür von Gunter Puttrich-Reignard und Ina Peters und deren Geflachse („Was ist der Unterschied zwischen einem Hörenden und einem Gehörlosen? Der Hörende muß sich öfter die Zähne putzen“).

Plastischer ließ sich nicht vermitteln, wie Taubstumme sich fühlen mögen, da sie nichts hören. So mußten die Zuhörenden einmal am eigenen Leib spüren, wie es ist, wenn jemand „redet“ und man nichts versteht. Noch nie kam ich mir so hilflos vor wie an diesem Abend.

In der Pause strömten taubstumme Punks, Schwule, Rentner, Kinder und Singles auf die Terrasse der Kongreßhalle, rauchten, jeder unterhielt sich mit jedem. Und das einzige, was man hören konnte, war das Rauschen des Windes. An der Bar pulkten sich die FestivalbesucherInnen und wollten alle auf einmal bestellen. Und das einzige, was man hören konnte, war meine Stimme: „Eine Weinschorle, bitte.“

Daß die Dolmetscherinnen während der Wettbewerbsbeiträge pausierten, hat einen simplen Grund: Gebärdensprache läßt sich nicht wirklich übersetzen, sie ist eine Mischung aus Lyrik, Poesie und Dichtung. Bildhaft und expressiv. In ihr kommen keine Präpositionen vor oder Bindewörter, kein Subjekt, Prädikat, Objekt. Es ist eine Sprache, die aus dem Bauch kommt, von Gefühlen und Stimmungen abhängt. Mit dem Auto über eine Brücke fahren, gebärdet sich beispielsweise so: Beide Hände umklammern und steuern ein imaginiertes Lenkrad, anschließend formt eine Hand die Wölbung einer Brücke nach.

Hervorragend geeignet ist die Gebärdensprache für Witze und zum Geschichtenerzählen. Als zwischendurch Gunter Puttrich- Reignard eine „Weihnachtsgeschichte“ zum besten gibt und er ein Feuerwerk der Gestik absolviert, lachen sich die ZuguckerIn

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nen halbtot, das heißt: Ihre Gesichter lachen. Ohne Töne. Und wenn man morgens um drei Taubstumme in Berlins Szenerelikt „Kumpelnest“ mit offenem Mund beobachtet, merkt man ganz schnell, wie verkümmert die Handbewegungen der Hörenden doch sind. Und man merkt auch, mit welch stechenden Blicken sie sich unterhalten, wie hochkonzentriert sie einander angucken. Und wieviel sie sich zu sagen haben im Gegensatz zu manch anderen – hörenden – Kneipenbesuchern, die dumpf in ihr Bierglas stieren.

Das Festival, bei dem Stephan Goldschmidt, Susanne Grene und Johanna Weber die „Goldene Hand“ für die expressivsten und pointiertesten Beiträge gewannen, war in zweiter Linie auch eine PR- Veranstaltung für die Anerkennung der Gebärdensprache. Ein lautloser und wortgewaltiger Akt der Solidarität. Denn noch immer werden Gehörlose in Sonderschulen getriezt, per Lautsprache die gesprochene Sprache nachzugestikulieren.

Was die Kommunikation untereinander hemmt – und antiquiert ist. Würde außerdem die Gebärdensprache endlich von der Bundesregierung anerkannt, müßten die Gehörlosen nicht mehr auf ehrenamtliche Dolmetscherhilfe hoffen. Wer gehörlos zur Welt kommt, lernt nie das Sprechen, weil Reden und Hören zwangsweise miteinander verquickt sind. Wie mit dem Brecheisen bringt man in Sonderschulen den Taubstummen bei, daß ein Bild von einem Schiff zu dem Wort „Schiff“ gehört und wie man es in Lautsprache gestikuliert. Das ist ein schmerzhafter Prozeß, und er führt den Taubstummen auch jedesmal buchstäblich vor Augen, daß sie in einer Welt der Hörenden leben. Taubstumme kämpfen daher für ihre Kultur, das heißt für ihre Art zu kommunizieren.

Man zwingt Taubstumme, Wörter mit den Lippen nachzuformulieren, die sie nie gesprochen haben und nie werden sprechen können – und als wäre das nicht Stigma genug, bleiben ihnen Bildungswege wie beispielsweise Volkshochschulkurse oder ein Studium an einer Universität verschlossen. Viele Taubstumme sind daher, was Wunder, arbeitslos.

„Man hält uns für blöd“, schreibt Sabine, 24, auf einen Zettel und guckt mich fragend an. Wir unterhalten uns mit Papier und Kuli. Sie hat es satt, von Hörenden begafft zu werden, als komme sie vom Mars. Wobei, das räumt sie ein, sie sich schon daran gewöhnt hat. Sabine würde gerne Sprachen studieren. „Aber wo?“ schreibt sie. Ihr unfreiwilliger Kompromiß: eine Ausbildung zur Gebärdensprachlehrerin. Als wir uns verabschieden, sage ich tschüs, Sabine streicht mit einer Hand über meinen Oberarm.

Kurz vor Mitternacht gibt die siebenköpfige Jury die Gewinner bekannt. Ein Meer von Armen winkt, und die drei ersten Gewinner erfahren, daß sie „mit Kraft gebärdet haben“. Sabine heult vor Freude, denn ihre Freundin ist zweite geworden. Die Preisverleihung vollzieht sich in aller Stille wie auch der allgemeine Aufbruch zur Mitternachtsdisco im Gehörlosenzentrum in Kreuzberg.

So eine Disco hat die Welt ebenfalls noch nicht gesehen. Etwa 200 bunt zusammengewürfelte Menschen, alte und junge, schwule, lesbische und heterosexuelle, Hippies, Disco-Miezen und Macker, indische Abiturienten und deutsche Biedermänner trinken Bier und Sekt, essen belegte Brötchen und rauchen. Niemand steht bewegungslos da, jeder plaudert mit irgend jemandem. Und das einzige, was man hört, ist Musik.

Weit nach Mitternacht ist die grell ausgeleuchtete Tanzfläche voll. Sie tanzen zu dröhnendem HipHop. Tanzen wie Hörende auch, denn sie fühlen die Bässe im Bauch.