Der Traum vom Richten

■ Noch einmal Ost meets West: „Wer zweimal lügt“ von Bertram von Boxberg

„Wer recht hat, darf auch mal lügen, um recht zu bekommen“, berät der 70jährige Antiquar Franz Hübner seine Kundin, eine alte Dame, die Ärger mit ihrem Vermieter hat. Trotz solch lebensnaher juristischer Bildung – „40 Jahre, das sind 80 Semester“ – hat der Gebrauchtbuchhändler für Rechtslektüre und Krimis seinen Lebenstraum nicht erfüllen können: Zum Richter hat es nie gereicht, also pflegt, sortiert und stapelt er die Schätze seines Antiquariats in Frankfurt am Main. Sein Sohn aber hat es weit gebracht, ist Staatssekretär mit Sinn für Höheres im hessischen Justizministerium. Dessen Idee wiederum, pensionierte Richter zur Unterstützung der noch ungeübten Rechtssprecher in die neuen Bundesländer zu schicken, soll seiner politischen Karriere das entscheidende Profil verleihen. Soweit die verwandtschaftlichen Verwicklungen.

Aber da gibt es noch die ebenfalls nicht mehr ganz junge und schwer enttäuschte Frau Mertens. Jahrzehntelang hatte sie treu und redlich im Haushalt des Gerichtspräsidenten Binger gedient, in der Hoffnung, daß er sie auf seinem spanischen Altersruhesitz beschäftigen werde. Pustekuchen, allein die Hinterlassenschaft liegt noch in ihrer Obhut, und sie räumt die alten Folianten voller Paragraphen aus den Regalen, und wohin trägt sie die? Genau, zu Franz Hübner. So beginnt die Köpenickiade „Wer zweimal lügt“ von Bertram von Boxberg, Jahrgang 1957 und Absolvent der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin. Ohne Franz Hübner (Walter Buschhoff) zu fragen, setzt Frau Mertens (Ursula Karusseit) das Bewerbungsschreiben an den aufstrebenden Staatssekretär auf: Hübner wird zum Gerichtsdirektor Binger im sächsischen Freiberg, Frau Mertens geht als seine Gattin durch, und der hessische Justizminister gratuliert Sohnemann Hübner, daß er den alten Haudegen Binger fürs „Beitrittsgebiet“ gewonnen habe. Die Begegnung der östlichen und westlichen Jurisdiktion basiert auf einem Haufen von Versteckspielen, Verwechslungen und Fehlinterpretationen.

Ähnlich authentisch wirkt, daß am Ende alle was zu verbergen haben: der junge Richter Krause seine DDR-Urteile gegen Republikflüchtlinge, und der Gerichtsdirektor, daß er Buchhändler ist, der die juristische Arbeit lieber nach der Maxime „Jeder macht die Fälle, zu denen er Lust hat“ verteilt. Und daß der ehrenwerte Richter a.D. Binger, der nichtsahnend in Spanien weilt, sich im Zweiten Weltkrieg mit einem drakonischen Urteil gegen einen Kartoffeldieb hervorgetan hatte, kommt auch ein bißchen ans Licht.

Themenmangel kann man dem Film „Wer zweimal lügt“ nicht unterstellen. Mit Witz und Melancholie wird in deutschen Vergangenheiten herumgepiekst. Akribisch führt der Buchhändler als Richter Buch über seine gesammelten Missetaten, angefangen bei der „Erschleichung eines Dienstwagens: drei Monate“ bis zur „Amtsanmaßung: ein Jahr, drei Monate“. Walter Buschhoff ist als der alte Träumer Hübner zwar zaghaft, aber mit Hilfe der Frau Mertens mutig genug, sich an seinen Traum vom Richten zu wagen. In der Enttäuschung liegt die Kraft für Frau Mertens, und Ursula Karusseit wird im roten Kostümchen zur überzeugend resoluten Richtersgattin. Aber wie es mit Träumen nicht selten ist, können sie sich im Erfüllungsfalle zu Alpträumen entwickeln, und unter diesem Aspekt erlebt der Film ein leicht bitteres Happy-End.

Etwas blaß dagegen bleibt Gerd Wameling als Staatssekretär Sven Hübner, die Karikatur eines Karrieristen und Pragmatikers, dem die Aufstiegsgelüste aus dem Anzug dünsten. Seltsam, seltsam, natürlich sind Politiker auf diese Wesenszüge schon seit Helmut Schmidt festgelegt. Und ihr dramatisches Potential auf der Leinwand kann nur die entsprechende Lustigkeit eines Kohl-Witzes erreichen. Julia Kossmann

„Wer zweimal lügt“, Regie: Bertram von Boxberg. Mit Walter Buschhoff, Ursula Karusseit, Jürgen Holtz u. a., Deutschland 1993, 81 Minuten.