■ Lido-Kino
: Geisterstunden

Bislang hat man von der Tatsache, daß dieses unter Mussolini gegründete Filmfestival nun das erste Mal unter der „Zweiten Republik“ stattfindet, noch nichts Spektakuläres bemerkt. Es gab weder die Sitzblockaden, auf die wir uns schon eingerichtet hatten, noch irgendwelche erschreckend pompösen Darbietungen. Statt dessen gab es, was einem im Grunde sehr viel lieber sein kann, eine fast wilde Entschlossenheit des Festivals, Mut bei der Auswahl der Filme zu zeigen und die Klassenschranke zwischen Kritikern und Publikum einzureißen.

Am Abend sieht man deshalb beispielsweise auf der Piazza vor dem Casino, auf der auch gerne sehr laute Popkameraden zum Tanz aufspielen, wie sich Gillo Pontecorvo, der Leiter der Mostra, mit Jack Nicholson unterhält – ein für Berliner gänzlich undenkbarer Anblick; oder können Sie sich Moritz de Hadeln beim öffentlichen Plaudern mit Michelle Pfeiffer vorstellen, und ganz Berlin schaut zu?

Mit „mutiger Auswahl“ meine ich zum Beispiel die Präsentation eines insgesamt fünfstündigen Films von Lars von Trier, den ich beinahe verpaßt hätte, weil ich seinen „Europa, Europa“ so schrecklich fand. Gute Geister schleifen einen dann aber doch immer hinter sich her. Es handelt sich um eine Art „Twin Peaks meets Schwarzwaldklinik“, das Material wirkt zum Teil wie das, was in Überwachungskameras vom Tage übrigblieb; der Titel dieses Ungetüms ist „Riget“ oder „Das Königreich“. So heißt nämlich die Klinik, in der das Ganze spielt, ein Hochhaus aus den Siebzigern, von dem wir ab und an eine Luftaufnahme sehen, die einem Bomber entstammen könnte. Zweiter Chefarzt der dänischen Klinik ist ein Schwede, Doktor Helmer, der ab und zu aufs Dach steigt und „Danish scum“ (dänischer Abschaum) ruft oder verächtlich schnaubt: „Unsere Wälder sind voller Leben, Kuckuck, Kuckuck – Hans Christian Andersen, dänischer Nationaldichter, ha!“

Im Keller sind zwei sich stets anlächelnde Mongoloide damit beschäftigt, abzuwaschen und die Vorahnungen für den Tag herauszugeben. Ein Mädchen ist verschwunden und taucht als armer Geist wieder auf; Leute werden kurzfristig durchsichtig, Wasser rinnt aus unerklärlichen Gründen den Luftschacht herab, und Udo Kier spielte eine höchst interessante Rolle bei einer Geburt, die in äußerster Konsequenz noch der von Rosemary Konkurrenz machen könnte. Einzig Frau Drusse spricht die Sprache, die Gespenster verstehen. Fürs Fernsehen viel zu schade.

Geister ganz anderer Art und Funktion waren in dem australischen Film „Once Were Warriors“ zu sehen. Bei Gott: selten so riesige Gesichter, Hände, Muskelmassen im Kino gesehen! Und dann noch tätowiert! Man sieht die Frau Beth und her man Jake, dessen sonnenbebrillte Freunde Schränke sind, die sich abends voll Bier schütten. Man lacht und singt, aber man schlägt auch plötzlich so, daß Beth am nächsten morgen aussieht wie frisch für einen Splatterfilm zurechtgemacht. Beth ist eine Maori, und ihre fünf Kinder wissen nicht mehr viel davon, aber einmal, vielleicht vor den Briten, vielleicht vor dem Bier und dem Crack, da waren sie Krieger.

Das Fantastische an diesem Film ist, daß er den Voodoo- Zauber weder als bloßes Ablenkungsmanöver vom real existierenden, postkolonialen Elend denunziert noch ihn verherrlicht, wie das vielleicht Spike Lee versucht hätte; es ist vielleicht eine Chance, Abhängigkeiten zu reduzieren und eine ideelle Community zu schaffen. Freunde des Tattoos sollten auf keinen Fall nicht hingehen. Mariam Niroumand