Suppen und pralle Würstchen

Einmal Germinal ist nicht genug: „Daens“ von Stijn Coninx zeigt das Elend des flämischen Proletariats  ■ Von Katja Nicodemus

Zur Suppe drängt doch alles. An der Suppe hängt die revolutionäre Gesinnung. Zur leckeren Streikbrecherbrühe drängen die ausgehungerten Arbeiter. Da schießt in letzter Sekunde die sozialistische Zwiebelsuppe um die Ecke. Die Masse schwankt. Kapitalisteneintopf oder gottloses Gebräu? Die Lösung lautet: Daens! Mit „Wir wollen Daens, wir wollen Daens“- Rufen marschiert das Proletariat hinweg vom Ort des Suppenkonflikts in eine bessere Zukunft. Daens, das sind: charismatische Silberlocken, vergeistigtes Profil und wehende Soutane. Daens, Hoffnung der Ausgebeuteten, Feind der Bourgeoisie, kämpferischer Priester und Mann des Volkes. Es hat ihn wirklich gegeben im flämischen Aalst um die Jahrhundertwende, also beginnt Stijn Coninx sein Zweieinviertelstundenepos „Daens“ in grobkörniger, authentischer Schwarzweißfotografie. Bald werden die Bilder bunt, doch vom Schwarzweiß mag Coninx trotzdem nicht mehr lassen. Es rattern die Maschinen und schuften die Mütter, es frieren die Mädchen und hungern die Kinder. Schnitt. Im feinen Interieur beschließen die backenbärtigen Besitzer der Produktionsmittel, in der örtlichen Textilindustrie von nun an das englische System mit drei Frauen an vier Spinnmaschinen einzuführen, und nehmen damit zusätzliche Arbeitsunfälle in Kauf. Energischen Schrittes und wehenden Haares wirft sich Pater Adolf Daens in den Klassenkonflikt. Bald brodelt es in Aalst, man streikt, schwenkt Fahnen fürs „Algemeen Stemrecht“ und gründet die Partei der „Daensisten“.

Und das Imperium schlägt zurück: König, Papst und Bourgeoisie hecken eine teuflische Strategie aus. Nicht Suppen, sondern pralle Würstchen sollen schließlich den revolutionären Geist korrumpieren.

Botschaft satt, aber ohne Bilder

Auf wundersame Weise sind Gut und Böse in diesem Arbeitereintopf mit den Klassenverhältnissen kongruent, so glasklar ist diese Welt, in der die schlechten auch schlecht aussehen, daß man meint, jeden Augenblick müßten Hanni und Nanni um die Ecke biegen.

Über die Botschaft hat Coninx dann alle Bilder vergessen. Abgefilmt werden sie schon, die Fabrikhallen, doch kaum länger als ein paar Sekunden dauern die mechanischen Bewegungen der Frauen an den Spinnmaschinen. Merkwürdig fremd bleiben dem Film die schrecklichen Arbeitsbedingungen, von denen unentwegt die Rede ist. Bei der ausführlichen Vergewaltigung einer jungen Arbeiterführerin durch einen Kotzbrocken von Aufseher findet die Kamera dann ungeahnte Muße und interessiert sich plötzlich doch für Einzelheiten. Ganz scheinheilig wird die Legenda aurea vom Guten Daens plötzlich, wenn das Gesicht des heulenden Mädchens und das ruckelnde Kinn des Bösewichts die Leinwand ausfüllen. Oder wenn ein hungernder kleiner Junge beim Versuch, einem Zirkuslöwen das Futter zu klauen, von der Bestie zerrissen wird.

Spekulativ und letztendlich desinteressiert führt Coninx hier malerisch mit Lumpen drapierte Verhältnisse vor, an denen die heroische Hauptfigur scheitern muß. Natürlich wird Pater Daens' soziales Engagement von den Prälaten nicht geduldet: Zum ununterbrochenen Lesen der Messe in der leeren Kirche wird der aufmüpfige Pater vom Bischof verurteilt. Und wir verurteilen Stijn Coninx zum hunderttausendmaligen Aufsagen von Godards Forderung, man müsse Filme politisch statt politische Filme machen. Im leeren Kino, versteht sich.

Die Nuanciertheit eines Urschreis

Mit Claude Berris Zeichenschinken „Germinal“ und seiner üppigen Folklorepracht, zu der Coninx jetzt die Aldi-Version nachliefert, stampfte Anfang des Jahres bereits ein vergleichbar museales Stück Klassenkampf in die Kinos. Nichts als die Befriedigung des theoretischen Gerechtigkeitsgefühls, schimpft Kracauer, erreichten solche Verfilmungen längst verschollener Freiheitskämpfe, deren Mut sich direkt proportional mit der Annäherung an die Gegenwart verringere.

Authentisch bis zum proletarischen Pickelchen profitierte das Grubendrama „Germinal“, übrigens der teuerste französische Film aller Zeiten, während der Dreharbeiten von der desolaten Lage in den nordfranzösischen Kohlerevieren.

Dankbar schlüpften ganze Arbeitslosenkolonnen in die historischen Lumpen. Mit der Nuanciertheit eines Urschreis aus der frühkapitalistischen Wildnis werden in diesen modernen Elendsepen die Agitprop-Typisierungen (Arbeiter, Kapitalist, Spitzel, etc.) aus den allerersten Anfängen des sowjetischen Arbeiterkinos auf die Leinwand geschleudert, wobei ansonsten die dramaturgischen und ästhetischen Mittel eben jenes Hollywood-Erzählkinos herunterrattern, auf das die Proletkult-Regisseure, allen voran Eisenstein, spuckten. Nicht nur auf den Inhalt, vor allem auf die Form müsse sich die Revolution auf der Leinwand beziehen, hatte der gefordert, da gerade in der Form der bewegten Bilder das gedankliche Gerüst zum Tragen komme. Nur: Nie wieder war die Avantgarde so nahe am Zuschauer wie in jener Zeit.

Angesichts eines in den Aufbruchsjahren der Sowjetunion sozusagen traumhaft klassenbewußten Publikums konnte selbst ein für heutige Betrachter haarsträubend abgefahrenes Filmexperiment wie Eisensteins „Streik“ (1924) mühelos die Leute erreichen, deren Sache es vertrat.

Ungleich schwerer hatte es da der proletarische Spielfilm der Weimarer Republik. Neben der Internationalen Arbeiterhilfe rumorte ab 1927 unter Führung der KPD eine Sammelbewegung für die Gründung des Volksfilmverbandes, der unter dem schönen Motto „Wie kommt das Volk zu seinem Film?“ radikal-sozialkritische Filme finanzierte. Gegen die Hinterhofromantik der bürgerlichen „Zillefilme“, in denen der Arbeiter am Schluß doch noch die Fabrikantentochter abkriegt, setzt dann „Mutter Krausens Fahrt ins Glück“ (1929) ein wütendes Fanal, als erster proletarisch-revolutionärer Film Deutschlands.

Unterhaltung als Anschlußfähigkeit

Kaum mehr vorstellbar sind heute die Produktionsbedingungen von Filmen wie Slatan Dodows „Kuhle Wampe“ (Drehbuch von Bertolt Brecht und Ernst Ottwalt), wo Arbeitslose, Arbeitervereine und Agitprop-Gruppen unentgeltlich beim Drehen mithalfen. „Die Tendenz der Kamera ist ihre Tendenz. Gerade aus Gründen der politischen Propaganda können sie alle Regeln der Filmkunst spielen lassen“, begeisterte sich damals Béla Bálazs und freute sich auf eine Zukunft mit dem „Film als Kunst des Weltvolkes.“

Was das Weltvolk heute wohl dazu sagen würde: hoffnungslose Hollywoodgucker in grellen Trainingsanzügen, Konsumenten, die, wie Horkheimer/Adorno so schön melodramatisch meinten, „dem, was ihnen geboten wird, widerstandslos verfallen“. Während ein Häufchen Intellektueller in sozialkritische Filme von Ken Loach, Mike Leigh oder wem auch immer rennt, um sich den notorisch ver- und zerfallenen Mitmenschen anzunähern, können sie mit dem sogenannten Kunstfilm längst nichts mehr anfangen.

Man will sich halt unterhalten. Neudeutsch heißt das, man ist nicht mehr „anschlußfähig“. Wie sollte da das Schema der Umwälzung, Motor der klassischen, von Arbeitern für Arbeiter gedrehten Filme, noch greifen, wenn kein Bewußtsein, keine Evolution, keine Eisensteinsche Generallinie mehr vorhanden ist, „d.h. keine Entwicklung vom Alten zum Neuen und keine Revolution, die einen Sprung vom einen zum anderen macht.“ (Deleuze) Und: „Wenn es ein modernes politisches Kino gibt, dann auf der Basis, daß das Volk nicht mehr existiert, oder noch nicht existiert ... das Volk fehlt.“

„Daens“. Regie: Stijn Coninx, Buch: François Chevallier, Stijn Coninx, Kamera: Walter Vanden Ende. Mit: Jan Decleir, Gerard Désarthe, Antja De Boeck, u.v.a. Belgien, 1992, 134 Min.