Ein Paradiesvogel zwischen E- und U-Musik

Heiner Goebbels' Auftrags-Orchesterwerk „Surrogate Cities“ während der Berliner Festwochen: Sinnlicher kann Musik kaum sein  ■ Von Christine Hohmeyer

Eine Stadt schläft niemals. Noch in den ruhigsten Momenten ist in ihr Bewegung, Lärm, Geräusch. Heiner Goebbels hat – im Auftrag der Frankfurter Feste und der Jungen Deutschen Philharmonie – ein Stück für großes Orchester, Sampler, Mezzosopran und Stimme geschrieben, in welchem Bewegung und Klang einer Stadt aufgefangen und verarbeitet sind.

„Surrogate Cities“ ist die Sinfonie einer Großstadt, welche in neun Bildern vom Leben in den Städten erzählt. Texte von Paul Auster, Hugo Hamilton, Franz Kafka und anderen dienten Goebbels als Inspiration, ihre verschiedenen Blickwinkel hat er musikalisch illustriert. Es ist, als wanderte einer durch eine Stadt, in der sich ständig neue Welten erschließen. Der Wandernde erlebt seine Umwelt fortwährend neu, ist Stadtneurotiker, Fremder und Utopist in einer Umgebung, die, wie der Titel andeutet, ein Ersatz für andere Lebensräume sein muß. „When you live in a city, you learn to take nothing for granted“, sagt die beschwörende Stimme von David Moss.

Und so eröffnen sich in einem dichten musikalischen Gewebe Schritt für Schritt neue Klangräume. Musikalische Zitate werden wie auf einem Basar feilgeboten: ein maurisches Motiv erklingt, Jazz-Patterns laufen durch, und alte sinfonische Klänge werden zu Remittenden einer vergangenen Kultur. Plötzlich ist es, als reiße man irgendwo ein Fenster auf, aus einem Zimmer erklingt Klaviermusik von Scarlatti, dann schlägt das Fenster wieder zu.

Goebbels schafft solche Hörfenster für die unterschiedlichsten musikalischen Traditionen, er zitiert, was das Zeug hält, aber es ist nie Zitat um des Zitates willen. Die Teile verbinden sich zu einem organischen Ganzen – genau wie einzelne Lebensräume zu einer Stadt verschmelzen. Aber nicht nur verschiedene Kulturen, auch Vergangenheit und Zukunft treffen hier aufeinander. „Manches Alte ist gewiß noch am Boden der Stadt oder unter ihren modernen Bauten vergraben“, heißt es in einem der Hintergrundtexte von Sigmund Freud. Analog dazu verbindet Goebbels in der Architektur der Musik Geschichte und Gegenwart.

Zu den sich verändernden musikalischen Stimmungen gibt es eine changierende Beleuchtung von fahl bis nachtschwärmerblau. Über der Bühne ist ein Räderwerk aus Licht angebracht, Scheinwerfer loten den Raum aus, es werden Maschinerien imaginiert und der Mond über der Bourbon Street geht auf. Sinnlicher kann Musik kaum sein.

Heiner Goebbels, dessen letztes Stück „Oder die glücklose Landung“ vom Leben in der Wildnis, von Faszination und Schrecken der Natur erzählte, hat mit dieser Schilderung urbanen Lebens gezeigt, daß er die unterschiedlichsten Lebensräume musikalisch zu illustrieren versteht. Dazu kommt, daß er die traditionell festgelegten Klangmöglichkeiten eines riesigen Orchesterapparates für seine Musik neu belebt. „Surrogate Cities“ ist der Jungen Deutschen Philharmonie unter der Leitung von Peter Rudel, die ihren 20. Geburtstag feiert, wie auf den Leib geschrieben.

Und auch die solistischen Stücke liegen Gall Gilmore und David Moss hervorragend: In dem Satz „In the Country of last Things“ nach Paul Auster sind es sprachkompositorische Elemente, die aus David Moss hechelnd, schreiend und mit expressiven Gebärden hervorbrechen. Der dritte der „Drei Horatier-Songs“ nach Heiner Müller ist ein Blues für Gall Gilmore, der den Raum kongenial mit Sentimentalität und der Sehnsucht nach anderen Zeiten zu füllen vermag.

Uraufgeführt wurde „Surrogate Cities“ am 31. August in der Alten Oper in Frankfurt am Main. In der Hochschule der Künste, wo das Werk im Rahmen der Berliner Festwochen am Dienstagabend zu hören war, zeigte sich das Publikum begeistert. Kein Wunder: In einer bürgerlichen Musikkultur, die den Markt säuberlich in sogenannte E- und U-Musik trennt, ist Goebbels der Paradiesvogel unter den Komponisten. Er, der sich selbst nicht Komponist nennen mag, weil er schließlich nur auf Bestellung schreibe, trifft mit seinen musikalischen Grenzüberschreitungen den Nerv der Zeit, ohne sich populistisch anzubiedern. Hoffentlich nimmt er noch viele Bestellungen entgegen.