"Ohne Armee hätte es keinen Frieden gegeben"

■ Das Hauptereignis der Biennale Venedig: Gestern präsentierte Claude Lanzmann, der Regisseur von "Shoah", seinen neuen Film "Tsahal" über die israelische Armee. Mit Mariam Niroumand sprach ...

Das Hauptereignis der Biennale Venedig: Gestern präsen- tierte Claude Lanzmann, der Regisseur von „Shoah“, seinen neuen Film „Tsahal“ über die israelische Armee. Mit Mariam Niroumand sprach er über „Tsahal“ und den Friedensprozeß.

„Ohne Armee hätte es keinen Frieden gegeben“

taz: Ihr Film wurde hier in Venedig an Rosh Hashana vorgestellt, dem jüdischen Neujahrstag. Hat das eine Bedeutung für Sie?

Claude Lanzmann: Nein, es ist mir völlig gleichgültig.

Seit über zwanzig Jahren beschäftigen Sie sich mit Israel und dem jüdischen Volk; es ist eine Trilogie von Filmen daraus entstanden: „Pourquoi Israel“ von 1973 war der erste, dann folgte „Shoah“ (1985) und nun „Tsahal“. Worin sehen Sie die wichtigsten Veränderungen des Staates seither?

Daß es eine Trilogie werden würde, habe ich bei „Pourquoi Israel“ noch nicht gewußt; aber alle drei Filme haben denselben Grund, die Existenz des jüdischen Volkes. Im Zentrum steht der Holocaust. Im Zentrum von „Tsahal“ steht deshalb das Problem, daß man angreifen muß, wenn man nicht sterben will, und daß man zugleich diesen Angriff nach Möglichkeit vermeiden will. Im ersten Film nähere ich mich Israel als ein Jude aus der Diaspora, der eine Gesellschaft beobachtet, in der das Anormale die Normalität ist. Damals habe ich mich hauptsächlich auf die zivile Gesellschaft konzentriert; die Armee ist im Hintergrund. Es ist ein freundlicher, oft sogar lustiger Film. In „Tsahal“ geht es ganz um die Armee, um sie als den Kern eines gesellschaftlichen Konsenses.

Man könnte diese Trilogie so lesen, als hätte sich die zivile Gesellschaft von damals, von vor dem Jom-Kippur-Krieg inzwischen in eine völlig durchmilitarisierte Gesellschaft verwandelt ...

Die Trennung ist spätestens seit dem Jom-Kippur-Krieg aufgehoben; man kann nicht mehr sagen: da ist das Militär, da sind die Zivilisten.

Im zweiten Teil von „Tsahal“, in dem Schriftsteller wie Amos Oz oder David Grossman zu Wort kommen, scheinen sie zu sagen, daß diese Durchmilitarisierung aufhören muß, weil sie die Gesellschaft barbarisiert.

Amos Oz sagt nur, daß die Besetzung enden muß. Er sagt, 1967 mußten wir die Westbank besetzen, aber das muß ein vorübergehender Zustand sein.

Es ehrt Israel, daß gerade die Militärs sich völlig im klaren darüber waren, was aus einer Gesellschaft wird, die ständig in Habachtstellung lebt. Die beiden Generäle Zucker und Schiffmann, die das Oberkommando über den Gaza- Streifen hatten, sind kluge Menschen; nur mit dem Holocaust vor Augen taten sie, was sie taten. „Tsahal“ erklärt die Entstehung der Angriffsdoktrin: Wenn dich jemand angreift, versuche nicht, in Deckung zu gehen, sondern greif selbst an, reagiere unmittelbar. Auch das geht direkt auf den Holocaust zurück. In „Shoah“ sagt Filip Müller vor der Gaskammer: „Gut, wir wollten eine Minute länger leben, solange da Leben ist, ist Hoffnung. Wer lebt, ist dazu verdammt, zu hoffen.“

Wo kommen in einer solchen Gesellschaft die Kräfte für einen Friedensvertrag her?

Wenn man sich das Verhältnis der Soldaten zur Gewalt ansieht, stellt man fest: Es gibt zwar einige brutale Soldaten, aber der Mehrheit ist Gewalt fremd. Es ist nicht in ihrem Blut, wie in dem eines Texas-Cop, eines französischen Reservisten oder eines deutschen Landsers. Wenn sie die jungen Fallschirmspringer in „Tsahal“ sehen, aus dem Flugzeug in ihren ersten Sprung gestoßen werden, sieht man, daß sie sehr weiche Gesichter haben, und sie haben Haare, sind nicht rasiert wie französische Legionäre. Es gibt, wie jemand in dem Film sagt, keine „Armée pure“, ebensowenig wie es einen anständigen Krieg gibt, das ist ein Widerspruch in sich. Sie können mir das glauben oder nicht, aber die Juden haben das Brutale nicht in ihren Genen. Der einzige in dem Film, der gegen den Friedensvertrag ist, war Arik Sharon, der seinerzeit Kommandeur im Jom-Kippur-Krieg war. Der Siedler, den man am Ende des zweiten Teils hört, ist auch ultraorthodox, politisch ganz weit rechts, aber er ist klug, a sweet man, er erklärt, daß er auch in einem palästinensischen Staat bleiben würde, wo er ist, daß er dort leben würde wie ein Jude in Italien. Es gibt eben in meinem Film niemanden, der dem Klischee vom fanatischen Siedler oder brutalen Militär entspricht – weil es nur so die Wahrheit ist.

Der Oberbefehlhaber der Armee sagt in „Tsahal“: Wir müssen aufpassen, daß wir weder eine Gesellschaft wie Sparta werden noch eine Horde von Unschuldslämmern, die man durch die Wüste ins Meer treiben kann. Ohne die Armee hätte es keinen Friedensvertrag mit der PLO und den arabischen Nachbarn gegeben, weil Israel längst zerstört worden wäre.

In „Tsahal“ erhält jeder der Kriege, in die Israel verwickelt war, eine ganz eigene Bedeutung und Interpretation ...

Da ist zunächst der Unabhängigkeitskrieg, in dem der Staat um seine bloße Existenz kämpfte. Der 6-Tage-Krieg war ein überwältigender Sieg, der der Armee und dem ganzen Land die dumme Idee vermittelt hat, sie seien die Herren der Welt und völlig unverwundbar, darauf folgte der Schock der Suez- Krise, wo zwei Jahre lang israelische Soldaten getötet, getötet, getötet wurden – ein Stellungskrieg. Der Jom-Kippur-Krieg hätte Israel dann fast das Leben gekostet, jedenfalls an der Grenze nach Syrien. Damals war ich in einem der Bunker; es war entsetzlich, ich hatte furchtbare Angst um Israel.

Die Invasion im Libanon war dann erstmalig auch unter den Soldaten umstritten; aber sie folgte eben der im Film auch kommentierten Doktrin, daß man versuchen muß, den Krieg außerhalb der Grenzen Israels, auf arabischem Territorium zu führen. Er hat die Rechte die Macht gekostet, danach kam eine Regierung der Arbeiterpartei. Über die Zeit danach sagt David Grossman: Ein Grund dafür, daß Israel nicht auf die Intifada vorbereitet war, war die Tatsache, daß es sich nicht als Besatzungsmacht verstanden hat; es war eine sehr sanfte Besetzung, man konnte die Armee in den besetzten Gebieten kaum sehen – das hat sich natürlich mit der Intifada geändert.

„Tsahal“ endet mit einem Zoom auf das Gesicht eines jungen Soldaten, der in einem Panzer sitzt; der erst ernst ist, dann etwas lächelt, dann wieder ernst ist. Darin sieht man alles: Er mag den Krieg nicht, er hat Hoffnung, wir müssen auf der Hut sein.

Waren die Friedensverhandlungen quasi zwangsläufig? Haben Sie Hoffnung?

Ich glaube, daß Amos Oz recht hat, wenn er sagt, daß eine „bürgerrechtliche Besetzung“ ein Widerspruch in sich ist. Weil sie sehr klug sind, die israelischen Juden, haben sie diesen Dauerkriegszustand mit vergleichsweise geringen menschlichen Verlusten überstanden. Dennoch ist es keine Lösung auf Dauer. Sie haben einen sehr großen Schritt nach vorne gemacht, es hat sehr viel Mut erfordert. Ich habe Hoffnung; ich glaube, daß es einen Frieden mit den alten Feinden Israels geben wird; vielleicht gibt es neue, aber trotzdem: Ich habe Hoffnung.

Warum sind Sie der einzige unter den jüdischen französischen Intellektuellen, der sich noch mit Israel beschäftigt? Lévy und Fienkelkraut kümmern sich um Bosnien, Kigali, Aids, für den jüdischen Staat haben sie kein rechtes Interesse mehr, wie kommt das?

Das liegt einfach daran, daß ich der Französischste von ihnen bin.