Vorweggenommene Archäologie

■ In der Südlichen Deichtorhalle werden bis 13. November Arbeiten von Keith Haring gezeigt

„Die T-Shirts aus dem Pop-Shop in New York haben die Kinder aufgetragen, die Signatur Keith Ha-rings hat die Waschmaschine gelöscht“, erzählt eine Mutter aus den Elbvororten und wundert sich, wie schnell Alltagsdesign zum Klassiker wird. Seriöse Kaufleute, die jeden Sprayer an ihren Liegenschaften sofort gerichtlich belangen würden, genossen bei der Eröffnung in den Deichtorhallen in Bildern und Plastiken das transportable Vermächtnis des Aktionskünstlers aus dem New Yorker Underground.

Der Kunstmarkt macht's möglich: Die achtziger Jahre haben in Keith Haring ihren definitiven Kultkünstler. Und das Stigma der Krankheit und ein früher, tragisch begriffener Tod machen sich für eine solche Rollenzuschreibung immer gut. Diverse Mythen umranken Keith Haring, ernennen ihn zum künstlerischen Genie oder tun ihn als künstlich hochgepushten Underdog-Clown für die Luxusgalerien New Yorks ab.

Dabei ist seine Biographie nicht allzu außergewöhnlich: einziger Sohn bürgerlicher Eltern in Pennsylvania, erst Kunstschule in Pittsburgh, dann in New York, wo er im Kontakt mit der Graffiti-Szene seinen spezifischen Stil entwickelte. Schon bald erlangt er internationales Ansehen: Vier Jahre nach seiner ersten Schülerausstellung ist er 1982 bereits auf der Kasseler dokumenta 7 vertreten. Doch sein Hauptinteresse bleibt es, seine Kunst für das Publikum auf der Straße an öffentliche Orte zu bringen.

In der U-Bahn und auf Mauern sprechen seine strahlenden Umrißfiguren von Liebe und Gefahr. „Mein Beitrag zur Welt ist meine Fähigkeit zu zeichnen. Zeichnen ist seit prähistorischen Zeiten im Grunde immer noch das Gleiche. Es lebt durch Magie.“ In diesem Sinne ist Keith Harings universelle Bildsprache ganz archaisch, eine vorweggenommene Archäologie des 21. Jahrhunderts. Seine Zeichen schmücken folgerichtig Trommeln, Masken und große Tonvasen, während in seinen Raumgestaltungen die Umrißzeichnung zur Textur des endlosen Musters deriliert.

Eine soziale Dimension erhält die Ausstellung des mit 31 Jahren an Aids Gestorbenen durch die begleitenden Aktivitäten von Hamburg Leuchtfeuer: Klebetatoos werden wohltätig verkauft und im Oktober gibt es eine große Auktion zeitgenössischer Kunst zugunsten des Fonds der Aids-Hilfe. Angesichts von Keith Harings drei Monate vor seinem Tod in schwarz-weiß gemalten, ejakulierenden Totengerippe „ohne Titel – für James Ensor“ sollte man sich an die neuesten Aids-Zahlen für Deutschland erinnern: 66.000 HIV-Infizierte, 11.000 akut Erkrankte und 6.600 Tote.

„Oft fängt der Spaß erst da an, wo er für andere aufhört“ plakatiert das als Sponsor auftretende Zigarettenunternehmen und eröffnet damit eine ganze Reihe von Assoziationen zu den Piktogrammen von Bedrohung, Sex und Gewalt, die als Werbebotschaft ziemlich seltsam sind. Keith Harings so gut zu gebrauchende Kunst kann in vielfältiger Weise mitgenommen werden: Im ganz konsequent präsenten Shop ist ein großes Angebot an Art Products käuflich zu erwerben. Zum Abschied gibt der Meister mit seinem Selbstporträt von 1985 einen fast hämischen Kommentar: Als letztes Bild im Rundgang lacht er aus erhöhter Position die Besucher an und Kunstverwalter aus, die seine „art in transit“ festschreiben wollen. Hajo Schiff

Die Ausstellung läuft bis zum 13. November in der Südlichen Deichtorhalle. Im italienischen „Charta“-Verlag ist hierzu ein Katalog erschienen (260 Seiten, 49 Mark). Siehe heute auch im überregionalen Kulturteil das Interview mit den New Yorker „Keith Haring Foundations“.