Champagner gegen den Jammer

■ Das "Märkische Viertel" ist dreißig geworden und auf dem besten Wege, Jugendsünden vergessen zu machen / Noch vor zehn Jahren sprach man vom Abriß der Trabantenstädte

Christof Czarnota ist zufrieden. Von seinem Balkon aus kann er Felder und Wiesen sehen und Bäume, die sind dreißig Jahre alt und groß geworden. „Da hinten“, zeigt er, „da liegt Rosenthal.“ Dazwischen stehen ein paar Hochhäuser. Doch Czarnota scheinen sie nicht zu stören. „Nur im Herbst, da kann man durch die Bäume durchsehen auf die Häuser, aber das ist nicht so schlimm.“

Früher war der Herbst zu Hause im Märkischen Viertel. Betonburgen auf märkischem Sand und ohne Farbe. Wo es Putz gab, bröckelte er auf leergefegte Wege. 50.000 Menschen hinter Mauern boten ein touristisches Ereignis, das vor allem den Besuchern aus Westdeutschland immer wieder das Gruseln lehrte. Im Rücken der Dorfkern von Lübars und das Tegeler Fließ, vor einem die Silhouette von Westberlins größter Trabantenstadt. Ein Horrorladen mit Ansage: Am Eichhorster Weg der „Lange Jammer“, eine Hochhausreihe, aneinandergestellt wie Dominosteine, nur grau und einer gleich dem andern, und am Wilhelmsruher Damm die Postbrücke, das „Markenzeichen“ nach Westen hin, schmutzig gelb und über die Fahrbahn gebaut, als hätte gerade die einen Windfang nötig.

Eine Kulisse für Selbstmörder, ein sozialer Brennpunkt, der sich bis zur Verwandschaft des aus Polen stammenden Czarnota herumgesprochen hatte. „Als ich hörte, daß ich eine Wohnung bekommen sollte“, erinnert er sich, „war ich glücklich. Als ich hörte, ich sollte ins Märkische Viertel ziehen, habe ich die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen und gedacht: Niemals!“ Das war vor zwei Jahren.

Heute lebt Christof Czanota mit seiner Familie gerne am Wilhelmsruher Damm. Die Dreieinhalbzimmerwohnung ist hell, aber nicht hellhörig, und gegen den Strich geschnitten. Als das Märkische Viertel gebaut wurde, war keiner der Architekten über 30 Jahre alt. Ambitionierte Architektur im Innern, die Jugendsünden blieben im wahrsten Sinne „außen vor“: Kaum Läden, keine Kneipe, und die erste Schule mit reichlich Verspätung. Eine gigantische Schlafstadt ohne Gesicht. Jetzt aber, da das Märkische Viertel dreißig geworden ist, scheint es auf dem besten Wege, den Kinderschuhen zu entwachsen.

„Wohnumfeldverbesserung“ nennt Georg Aunap, Vorstand der „Gesellschaft für sozialen Wohnungsbau“ (GeSoBau) sein Erfolgsrezept. Seitdem Aunap 1984 zur GeSoBau gekommen ist, hat er sich für die Bildung von Mieterbeiräten eingesetzt und die Bewohner nach ihren Wünschen zur Neugestaltung gefragt. Das Ergebnis: „Neben der Instandsetzung steht nun der Weg von der Wohnung zur Straße im Vordergrund.“ Die Eingangsbereiche wurden verglast, Bäume gepflanzt und Rasen gesät, der Blick auf die Häuser verstellt und damit eine Illusion geschaffen, für die die Bewohner dankbar sind. 79 Prozent der Hochhausmärker wohnen gerne im „MV“, und vor allem: sie bleiben. Mit 17 Jahren durchschnittlicher Verweildauer liegt das Märkische Viertel ganz vorn in Sachen „Gebietsbindung“.

Noch vor zehn Jahren war alles anders, war der Ruf der Trabantenstädte einmal mehr auf dem Tiefpunkt angelangt. Eine Mieterzeitung fragte unter der Schlagzeile „Einstürzende Neubauten“, ob man das Märkische Viertel abreißen müsse, und verwies darauf, daß allein für die Jahre 1982/83 der damalige Bausenator Franke der GeSoBau zehn Millionen Mark zur Beseitigung von Baumängeln zur Verfügung stellen mußte. In der Gropiusstadt in Buckow, zur selben Zeit hochgezogen wie das Märkische Viertel, mußten Neubauten bereits wegen Abriß entmietet werden.

Heute redet von Abriß keiner mehr, heute redet man von Erfolg. Dank Bonner Geldern wurde etwa der „Leo“, ein Großblock zur Wittenauer Seite hin, beinahe postmodern aufgemotzt. Und den „Langen Jammer“ am Eichhorster Damm, lange Zeit das Synonym für die Unwirtlichkeit der Trabantenstädte, nennt man nun – dem neuen Anstrich entsprechend – fast schon emphatisch „Die Champagnerburg“.

Vor einiger Zeit hat Christof Czarnota seine Eltern eingeladen. Noch sind sie nicht gekommen. Doch er will sie überzeugen, daß das Märkische Viertel nicht mehr das Problemviertel ist, als das es lange Zeit zu Recht galt. GeSoBau-Chef Georg Aunap wird es gerne hören. Aber er weiß, daß auch alles hätte anders kommen können. „Das Märkische Viertel“, sinniert er, „hat Glück gehabt.“ Vor allem mit dem Umfeld: Im Norden die Felder und Auenlandschaften, im Osten Rosenthal und Pankow, und ab Oktober der langersehnte U-Bahn-Anschluß. Trotz Instandsetzung und Wohnumfeldverbesserung würde Georg Aunap heute freilich eine solche Großsiedlung nicht mehr bauen wollen. „Denn Hochhäuser“, entfährt es ihm, „sind zum Wohnen eigentlich nicht geeignet.“ Uwe Rada