Alles hat mich zur Rebellin gemacht

■ Gespräch mit Taslima Nasrin über die Zeit im Versteck, ihren Roman "Lajja" und die ersten Wochen im Exil

Antoine de Gaudemar: Frau Nasrin, was können Sie uns heute über die Zeit sagen, in der Sie versteckt in Bangladesch gelebt haben?

Taslima Nasrin: In zwei Monaten habe ich zehnmal das Versteck gewechselt. Mitten in der Nacht mußte ich von einem Ort zum anderen gehen. Alle, die mir Zuflucht gewährt haben, hatten Angst vor der Polizei und den Fundamentalisten. Mir wurde berichtet, daß die Fundamentalisten gegen mich wüteten und auf der Straße brüllten: „Bringt Taslima um! Bringt sie um!“ Manchmal konnte ich Zeitungen lesen. Zuweilen habe ich die Schreie sogar selbst gehört, doch ich konnte nichts sehen, denn überall, wo ich hinging, versteckte man mich in einem verschlossenen, dunklen Raum. Dort blieb ich dann, ohne jemals Leute zu sehen, ohne Licht, ohne etwas zu tun. Außer denjenigen, die mich jeweils versteckten, wußte niemand, daß ich dort im Hause war. Also durfte ich weder rausgehen noch irgendein Geräusch machen. Wenn es möglich war, bekam ich ein wenig zu essen, doch oft war es unmöglich. Nächtelang konnte ich vor Hunger nicht schlafen. Während der ganzen Zeit habe ich meine Familie nicht gesehen und nicht angerufen. Es war zu gefährlich, denn die Telefone meines Anwalts, meiner Freunde und meiner Angehörigen wurden abgehört. Ich mußte auch meinen Kleidungsstil ändern, zum Beispiele eine Brille tragen.

Wie vergingen die Tage?

Keiner war gleich. An manchen Tagen war ich deprimiert, hatte keine Hoffnung mehr, weder für mich noch für mein Land. An anderen Tagen wieder war ich voller Hoffnung, vor allem, wenn ich hörte, daß fortschrittliche Leute oder Schriftsteller mich unterstützt haben. Das gab mir wieder Mut zum Leben, Inspiration zum Schreiben. Ich war nicht mehr so allein. Aber meistens war ich im Dunkeln, im Dunkeln meines Verstecks, in der Finsternis des Fundamentalismus. Mein Land wird wahrscheinlich bald zerstört sein. Die Fundamentalisten haben zwar nur sechs Prozent der Sitze im Parlament, aber sie werden immer mächtiger: Sie haben es geschafft, einen Generalstreik zu organisieren, und sie haben bei ihrem „langen Marsch“ 200.000 Personen zusammengebracht! Sie haben noch zweimal die Fatwa gegen mich ausgesprochen und erklärt, daß sie eine Million Schlangen in den Straßen von Dacca aussetzen würden, wenn man mich nicht tötete. Sie wissen natürlich, daß dergleichen unmöglich ist, aber sie haben genug Charisma, um es behaupten zu können ... Wenn die weltlich und fortschrittlich eingestellten Leute darauf nicht reagieren, werden sie an die Macht kommen!

Weshalb haben Sie sich dem Gericht gestellt?

Das war eine Entscheidung meines Anwalts. Ich habe sie akzeptiert, weil ich so nicht mehr weitermachen konnte. Ich wurde gesucht, man wollte mich töten, die Leute hatten immer mehr Angst, mich zu verstecken, das wurde unerträglich. Ich hatte mich nur deshalb nicht früher dem Gericht gestellt, weil auch das Gefängnis kein sicherer Ort für mich war, denn auch dort gab es Fundamentalisten. Sogar der Gang zum Gericht war gefährlich, denn die Regierung hatte nichts gegen diejenigen unternommen, die mich umbringen wollten. Eigentlich hatte ich schon aufgegeben: Wenn sie mich umbringen wollten, sollten sie es doch tun; ich war einfach mit meinen Kräften am Ende.

Kam Ihre Familie in Schwierigkeiten?

Sie wurde mit vielen Problemen konfrontiert. Mein Vater hat Freunde und Patienten verloren (er ist Arzt, Anmerk. d. Red.) und meine Mutter viele Beziehungen. Meine jüngere Schwester hat ihren Arbeitsplatz allein deswegen verloren, weil sie mit mir verwandt ist. Auch meine beiden Brüder haben Schwierigkeiten bekommen. Doch alle haben mich stets unterstützt und mir geholfen.

Warum haben Sie sich entschieden, nach Schweden zu kommen?

Weil der dortige PEN Club mich eingeladen hatte. Ich wollte mich ein paar Monate erholen, zur Ruhe kommen. Die Anspannung in der letzten Zeit war einfach zu stark. Hier werde ich schlafen, essen, schreiben und wieder zu mir selbst kommen können.

Wie fühlen Sie sich hier?

Ein paar Dinge habe ich mitnehmen können. Aber ich habe weder meinen Computer noch Bücher. Meine Bibliothek fehlt mir sehr, auch meine Nachschlagewerke. Englisch kann ich zwar lesen, aber lieber lese ich Bengali. In Bangladesch zu leben war allerdings noch schwieriger ... Also habe ich mich entschieden. Hier fühle ich mich in Sicherheit, ich mag dieses Land, auch wenn es ganz anders ist. Hier haben die Leute Redefreiheit, das ist für mich das Wichtigste. Der schwedische Winter wird für mich natürlich eine neue Erfahrung sein. Ich möchte auch noch in andere Länder reisen.

Denken Sie daran, eines Tages nach Bangladesch zurückzukehren?

Ja, wenn die Lage sich beruhigt hat. Bangladesch verlassen zu müssen, war wie ein schmerzhafter Riß, ich war demoralisiert, ich wußte nicht, wann ich dieses Land jemals wiedersehen würde. Was dort unten geschieht, ist schrecklich, alle fortschrittlichen Stimmen versucht man zum Schweigen zu bringen, es ist eine Schande für uns. Wir dürfen nicht aufhören, gegen den Fundamentalismus zu kämpfen.

Ich habe nie einer politischen Partei angehört, weil für mich das Schreiben ein Mittel war, die Menschen zu erreichen, und ich werde weiter schreiben wie zuvor. Ich habe meinen Fanclub, doch viele darin haben Angst, haben keinen Mut, mich offen zu unterstützen. In einem Gedicht, das ich sehr mag, sagt Tagore: Wenn niemand dich begleiten will, geh' allein! Das habe ich getan.

In Ihrem Buch „Lajja“, das gerade in französischer Übersetzung (bei Editions Stock, Anmerk. d. Red.) erschienen ist, stellen Sie dar, wie eine Hindufamilie in Bangladesch zum Opfer der Verfolung durch islamische Fundamentalisten wird. Was hat Sie zu dieser Themenwahl veranlaßt?

Ich habe stets für die Schwachen und die Verwundbaren geschrieben, für die Armen, die Frauen und die Verfolgten. In meiner Kindheit war mir das Milieu der Hindus sehr vertraut, nämlich durch die Nachbarn. Ich kannte sie gut, ich teilte mit ihnen meine Freuden und Leiden. Als ich sah, wie sie nach der Zerstörung der Moschee in Ajodhia in Indien verfolgt wurden, fühlte ich mich verpflichtet, über sie zu schreiben.

In „Lajja“ wird die Romanhandlung mit sehr genauen, sehr dokumentarischen Informationen eng vermischt. Warum?

Ich habe eine Geschichte schreiben wollen, die mein Land in düsteren Farben schildert. In den düsteren Farben, die es im Namen Gottes angenommen hat. Ich habe Artikel aus regionalen und überregionalen Zeitungen gesammelt, mich vor Ort begeben, die Zerstörungen und die Verfolgungen gesehen, die Leute getroffen und mit ihnen gesprochen. Das war nicht immer leicht. Um das zu schildern, habe ich eine neue Form entworfen, die nicht allein narrativ ist. Es war mein erster Versuch, eine Romanhandlung und Fakten miteinander zu mischen. Ich wollte, daß meine Leser sich darüber klar würden, in welchem Maße die Hindus verfolgt wurden, welcher Grausamkeit sie ausgesetzt waren. Ihnen fehlen Informationen, in den Zeitungen steht nicht alles, sie unterliegen der Zensur. Ich hoffe, Lesern meines Buches, die zum religiösen Fanatismus neigen, einen menschlicheren Standpunkt nahelegen zu können. Wenn das gelingt, habe ich meine Aufgabe als Schriftstellerin erfüllt. Das Buch ist gewissermaßen ein journalistischer Roman. In einem Land wie meinem hat das eine größere Wirkung. Die Verdummung der Leute muß offen bekämpft werden. Übrigens ist dieses Buch Fortsetzung auf Seite 15

Fortsetzung

zum Bestseller geworden, 60.000 Exemplare sind verkauft worden, zehnmal mehr noch in Bangladesch und in Indien als Raubdruck, nachdem es verboten worden war.

Wie setzt sich Ihre Leserschaft zusammen?

Es sind vor allem junge Leute aus dem Mittelstand, die studiert haben und fortschrittlich eingestellt sind. Und es sind zumeist Frauen, darunter auch solche, die vorher nie ein Buch gelesen haben.

Welche Hoffnung haben Sie heute?

Ich hoffe, daß die Fortschrittlich-Liberalen sich den Fundamentalisten entgegenstellen. Daß sie begreifen werden, wie man versucht, sie zum Schweigen zu bringen, zu unterdrücken, daß es einen Rückfall ins Mittelalter bedeuten würde, den Blasphemieparagraphen in unsere Verfasssung aufzunehmen. Diejenigen, die für eine islamische Gesetzgebung anstelle einer säkularen eintreten, wollen weder Fortschritt noch Freiheit. Mit einem islamischen Gesetz wird es keinen Fortschritt und keine Redefreiheit mehr geben. Ich hoffe, daß mein Land aufwachen und die Demokratie verteidigen wird. Politische Parteien auf der Basis der Religion müssen verboten werden.

Werden Sie etwas über Ihr Leben im Untergrund schreiben?

Ja, ich habe kein Tagebuch geführt, aber ich werde keinen dieser Augenblicke vergessen, sie sind wie eingraviert in meinem Kopf. Ich bereue nichts von dem, was ich getan oder geschrieben habe. Ich habe weder mit den Fundamentalisten noch mit der Regierung Kompromisse gemacht. Ich schreibe gegen Ungerechtigkeit und Ungleichheit. Natürlich mache ich mir viele Feinde, wenn ich die Wahrheit sage. Ich bin also nicht überrascht worden.

Haben Sie noch andere Projekte?

Ich habe angefangen, einen Roman über junge Mädchen im Islam zu schreiben. Es handelt sich um eine realistische Beschreibung der muslimischen Gesellschaft. Ich stamme aus einer muslimischen Familie, auch wenn nur meine Mutter religiös ist. Also habe ich vieles mitbekommen, die Vorurteile, den Aberglauben, die Ungerechtigkeiten. Als Kind und später als Heranwachsende besaß ich keines der Rechte, die meine Brüder hatten. Niemand verstand, daß ich nicht nur ein junges Mädchen, sondern auch ein Mensch war. Ich habe erfahren, wie das religiöse Gesetz die Frauen unterdrückte. Und das ergibt viel Stoff zum Schreiben. Es ist nicht nur eine einzige Geschichte, die mich zur Rebellin gemacht hat. Alles hat mich zur Rebellin gemacht.

Aus dem Französischen von Marianne Karbe. Mit freundlicher Genehmigung von „Libération“.