■ Der Kanzler wird bald den 40. Historikertag eröffnen
: Kohls zweite Geschichtspolitik

Als die taz Kohl am 20. Juli „weizsäckern“ sah und der Spiegel in unverhohlener Bewunderung eine „Machtmaschine“ mit schier „unangreifbarem System“ witterte, da schien auf einmal eine wahre Honigrunde im ansonsten so notorisch gestörten Verhältnis zwischen dem Kanzler und seinen publizistischen Gegnern eingeläutet worden zu sein.

Es sei nur ungern daran erinnert, wie erfolglos sich die linksliberale Intelligenz beim frühen Kanzler aufs Stilistische verlegte und den Dünkel der „feinen Leute“ teilte. Doch Kohl wurde nicht nur von sog. linken Spinnern, sondern auch von gestandenen Pragmatikern unterschätzt – allen voran Schmidt und Strauß. Als Kohl Mitte der 80er von Karl Heinz Bohrer gar als staatsästhetisches Skandalon verhöhnt wurde, griff das Gefeixe auch auf linke Kreise über, obwohl sich jene elitäre Kritik am fragwürdigen Vorbild des italienischen Kulturfaschismus zu orientieren schien.

Inhaltliche Gestalt nahm die Kritik an Kohl erst an, als der Kanzler zur ersten geschichtspolitischen Offensive ansetzen sollte und dabei seine berühmt-berüchtigte Schleifspur hinterließ: Seine trotzige Rede in Yad Vashem von der „Gnade der späten Geburt“, der völlig mißratene Versöhnungscoup von Bitburg, die heftig umstrittenen Museumsprojekte von Bonn und Berlin usf. Als dann auch noch der Historikerstreit ausbrach, sollten auf seiten der Linken schlafende Hunde geweckt werden, bis Hans-Ulrich Wehler 1987 das kühne Zwischenresultat verkünden konnte, der geschichtspolitische Angriff des „Verdrängungs- und Beschönigungskartells“ sei einstweilen zurückgeschlagen.

Die intellektuelle Abwehrfront gegen Kohl begann bereits während dessen zweiter Amtszeit zu bröckeln. Enzensberger hatte mit seinem anstößigen Spiegel-Interview am Ende des 87er Wahlkampfs das Ärgernis Kohl zu entdramatisieren versucht, indem er verkündete, die Bundesrepublik könne sich eine inkompetente Regierung leisten, weil es letzten Endes auf die Leute, die uns in der „Tagesschau“ langweilten, gar nicht ankomme.

Von rechten SPD-Traditionalisten über Berliner Alt-68er bis hin zu Vertretern der linksliberalen Hamburger Medienmacht war man schließlich voll des Lobes über die rasche, historisch dimensionierte Chancenverwertung des einst so befehdeten Regierungschefs: Im Stern wurde der „Super- Kohl“ vom Kaukasus beklatscht; Augstein wandelte sich vom Erzfeind zum machiavellistischen Claqueur, während taz-Autor Klaus Hartung mit seiner „Abbitte an Kohl“ den revolutionären Landsmann beschwor, der zum Epochenbruch getreu der Devise gehandelt habe: „Wenn das Gewitter heraufzieht, muß man sich beeilen, das Heu in die Scheune zu bringen.“ Udo Knapp ging in seinem Buch „Das Wagnis“ noch einen Schritt weiter und verklärte Kohls typisches „muddling-through“ gar zum nachahmenswerten Strukturprinzip von Politik.

Am Ende seiner Kanzlerschaft zieht Kohl nochmals alle Register, getragen von der späten Sehnsucht eines langjährigen Malus-Kanzlers, auch noch als charismatische Figur in die Geschichte eingehen zu wollen – in eine Geschichte freilich, die Kohl um so mehr zu entwerten scheint, je penetranter er glaubt, sie wie seine Chefsache behandeln zu können. Am 28.9. steht in Leipzig die merkwürdige Gleichzeitigkeit zwischen der Schlußphase des Wahlkampfes und dem 40. Deutschen Historikertag ins neue Gewandhaus, wo Kohl zum Thema „Nationale Identität im vereinten Europa“ die Eröffnungsrede halten wird.

Und doch sind Reaktionen wie zu Zeiten der ersten Geschichtsoffensive unangemessen. Schon damals wurde übertrieben, als man seine meist fehlgeschlagenen Versuche des symbolischen Umgangs mit Geschichte in den Rahmen einer gezielten rechtskonservativen Kampagne setzte, mit der angeblich die einstige Wende-Boschaft von der „geistig-moralischen Erneuerung“ realisiert werden sollte. Süffisant sei nicht verschwiegen, daß Kohls verpöntes Diktum von der „Gnade der späten Geburt“ in Wahrheit vom SPDler Günter Gaus stammt, die Museumsprojekte auf eine frühere Initiative des Bundespräsidenten Scheel zurückgehen und es Mitterrand und nicht der geschichtsbemühte Kanzler war, der über den Soldatengräbern von Verdun zu grabschen begann. Wie so oft wurde übersehen, daß Kohls „geistig-politischer“ Anspruch sich mehr an den strategischen Defiziten der Linken als an den Resultaten ihrer Politik orientierte. So stieß sich schon der Wahlkampf des jungen CDU-Vorsitzenden 1976 am entschlackten Politikverständnis seines Amtsvorgängers Helmut Schmidt, der Forderungen nach werteorientierten Sinn- und Zielvorgaben eher an die lutherische Landessynode weiterzureichen pflegte.

Als weiteres strategisches Defizit muß sich die Linke vorhalten lassen, beim Paradigmenwechsel in den siebziger Jahren – von der Gesellschaftstheorie hin zur Beschäftigung mit Geschichte – das historische Terrain allzu leichtfertig an die Konservativen abgetreten und damit Tendenzen des Neohistorismus unfreiwillig gefördert zu haben. Am Charakter der Kohlschen Geschichtspolitik hat sich indes nichts geändert. Sie bleibt die breiige Mischung aus einem diffusen Normalitätsbestreben und dem Verlangen nach breiter Zustimmung wie symbolischer Wirkung. Aber weder wird Deutschland damit „aus dem historischen Schatten Hitlers“ noch Kohl aus dem geistigen Schatten Weizsäckers treten können.

Jenem Kohl, der zu Beginn seiner zweiten Geschichtspolitik zur friderizianischen Umbettung in Sanssouci aufgekreuzt war, wurde nunmehr zum 20. Juli sogar ein recht passables Urteil bescheinigt, relativierte er doch die demokratischen Motive der Attentäter, widersprach einem Radikalenerlaß gegen linke Widerstandskämpfer und vergaß nicht, den tapferen Einzelkämpfer Johann Georg Elser zu erwähnen – trotz dessen kommunistischer Herkunft.

Doch Alexander Gauland verweist in seiner neuesten Kohl-Studie auf den ungünstigen Umstand, daß jeder „Rückgriff aufs Symbolische“ hierzulande kaum mit bleibenden Bildern und späterer Aura rechnen kann. Der Streit um die „Neue Wache“ habe gezeigt, daß es in Deutschland aus historischen Gründen keine selbstverständliche Übereinkunft zu Symbolen mehr gebe und folglich jede erzwungene Neuschöpfung Streit auslöse. Dies ist der alte Irrtum des Helmut Kohl: In der Geschichtspolitik droht seine hausväterliche Penetranz in autokratischen Starrsinn überzugehen. Laut Gauland fehlen Kohl – trotz seiner herausragenden Rolle bei der Neuvereinigung – „die subjektiven Merkmale der historischen Größe“. Norbert Seitz

Der Autor ist Redakteur der Frankfurter Hefte.