Theater von außen

■ Mit einer fünfstündigen Straßenparty eröffnete die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz die Winterspielzeit

Das Platzkonzert beginnt um bemerkenswerte 75 Minuten verspätet. Und mit einer Verlustanzeige. „Ick hab nüscht mit det Konzert zu tun“, stellt eine sonore Frauenstimme übers Mikrofon klar, „aba ick vamisse meenen Sohn Luis.“ Heulend fleht sie: „Bitte schaut euch um! Ick find den Luis doch nicht mehr zwischen all den Beenen!“ Wie auf Knopfdruck drehen sich zwischen 4.000 und 5.000 Köpfe nach rechts und nach links, nach hinten und nach unten. Das Ganze hat etwas von der Morgengymnastik japanischer Großunternehmen. Später wurde Luis dann gefunden. Vor lauter Staunen über die Menschenmassen muß er ganz vergessen haben, daß er ja mit seiner Mutter zum Eröffnungsfest gekommen war.

Das vom Tempodrom geklaute Motto „Umsonst & draußen“ lockte soviel Jungvolk aus seinen besetzten und ungeheizten Häusern an, daß selbst Volksbühnentechniker Angst bekamen: „Was wollen die nur alle hier?“ fragte einer nach Dienstschluß.

Niemand hatte mit diesem Massenauflauf gerechnet. Eigentlich wollten die Theatermacher die Rosa-Luxemburg-Straße gleich mitbesetzen, aber da spielte die Polizei nicht mit. So quetschte sich die Volksbühnenjugend aufs einträchtigste, Körper an Körper, Bierbüchse an Bierbüchse. Zum Schluß kletterten ganz Mutige auf umliegende Häuser, um wenigstens einen unverstellten Blick auf die Schnapsnasen namens „The Pogues“ werfen zu können.

„The Pogues“, wie erwähnt, spielten auf und – unnachahmlich kultig – Steve Binetti, Volksbühnenkantinenchef Peter Brose erhitzte in Lichtgeschwindigkeit Hunderte von tiefgefrorenen Bratwürsten, nebenan mixten Exil- Mexikaner brasilianischen Caipirinha, überforderten sensible Mägen mit fettigem Grillfleisch und verwöhnten arme Schlucker mit spottbilligen Maiskolben.

Der stets konziliante Volksbühnen-Ticketverkäufer Lars hatte an diesem frühen Abend das schwerste Los gezogen. Er mußte, meist erfolglos, die Menschen davon abhalten, im Foyer die Regenschauer abzuwarten: „Nur wer zum Vorverkauf will, darf heute hier rein. Das Haus ist zu“, tönte er ins Leere. Denn tatsächlich war die Volksbühne des Frank Castorf, die in dieser Spielzeit ihr 80jähriges Bestehen feiert, an diesem Freitag so offen wie noch nie.

Sogar bis nach Rostock hatte sich rumgesprochen, daß die identitätsstiftende Radaubühne zum Freiluftfest lud. Kai, 19, war mit Schlafsack von Warnemünde nach Berlin getrampt. In die Volksbühne wollte er immer schon mal. Hanna, 17, die mit ihren drei Freundinnen in Hippieklamotten und mit Gretchenzöpfen über das Fest schwebte, findet die Volksbühne „voll gut“. „Die sind nicht so verstaubt wie andere Theater.“

Fünf Stunden durfte das Volksbühnenvolk draußen gucken, gaffen, genießen. Später tat es dasselbe im Roten und Grünen Salon. Mit Theater hatte das alles gar nichts zu tun, aber das war ja auch so gewollt. „Die Volksbühne ist nichts ohne ihr Umfeld und findet nicht nur im Saale statt“, so Dramaturg Peter Lilienthal. Und Hausherr und Berufsprolet Frank Castorf erhob dies zum Dogma: „Die Volksbühne ist für jeden da und offen für alles, was interessant ist, auch wenn es mit Theater direkt nichts zu tun hat: Rockmusik, Video, Tango, Politiker, Philosophen, Verrückte, Zahnärzte.“ Und Menschen, die noch nie ein Theater von innen gesehen haben, vergaß er zu erwähnen. Thorsten Schmitz