Unter schwarzer Sonne

■ "Sehnsucht nach mehr": Das ZDF zeigt drei große Kleine Fernsehspiele

Ihr kindliches Gesicht umrahmt zwei riesengroße Kulleraugen, die ein wenig an Giulietta Masina in „La Strada“ erinnern. Maria steht immer einen Schritt neben sich. Gleich so, als wäre sie durch eine Glaswand von ihrer Umwelt getrennt. Den einzigen Bezugspunkt findet die junge Frau in ihren beiden Brüdern, in deren zärtliche Zuneigung sie sich buchstäblich hineinfallen lassen möchte: Zu Beginn des Films steht sie hoch oben auf einem Sims, umarmt ihren Bruder Joao und springt einen fünffachen Rückwärtssalto.

Die ungestüme Poetik von „Geschwister“ erinnert an Jane Campion. Doch Teresa Villaverde malt ihren Film in immer düstereren Farben weiter. Die Brüder stehen Maria zu nahe, als daß ihr Freudensprung in deren Liebe hinein ein Sprung hinaus ins Leben sein könnte. Und so leidet Maria zunehmend an der ,Krankheit der Jugend‘: sie träumt zuviel. Immer wieder flieht sie aus ihrem düsteren Alltag, der von der Pflege des blinden Vaters bestimmt wird, in die Utopie einer harmonischen, glücklichen Begegnung. Ihr erster Ausflug ins Lissabonner Nachtleben muß dementsprechend mit einem Desaster enden. Schon die Vorbereitungen deuten die Katastrophe an. Von ihrer Freundin Teresa wird Maria geschminkt, bis sie aussieht wie eine überreife Frucht, die zugleich noch vollkommen unreif wirkt. In der Stadt dann läßt sie sich vom erstbesten Typen abschleppen und in einer modrigen Hofeinfahrt beschlafen. In ohnmächtiger Bereitschaft, ganz als hätte sie keine Erinnerung mehr daran, daß sie einst vom Vater mißbraucht wurde, der dafür die Strafe der Blendung erhielt ...

Mit sicherer Hand zeichnet Teresa Villaverde (Buch und Regie) die Figurenkonstellation um die junge Maria (gespielt von der in Venedig als Star gefeierten Maria de Medeiros): Marias Abendschullehrerin quatscht sie mit ihren Beziehungskisten voll, und der Sohn des Eisenwarenhändlers, in dessen Laden Maria arbeitet, betatscht sie, wann immer sich die Gelegenheit bietet. Einzig Teresa, die Freundin ihres Bruders Joao, scheint ein wenig Licht in diese von einer schwarzen Sonne beleuchtete innere Landschaft zu werfen, die die Regisseurin aus dem Gesicht ihrer Hauptdarstellerin in die Atmosphäre des Films projiziert. Doch auch Teresas quirlige Vitalität entpuppt sich bald als pure Fassade.

Das Leitmotiv der verfehlten Begegnung zieht sich durch alle drei Kleinen Fernsehspiele, die das ZDF zu einer Reihe mit dem Titel „Sehnsucht nach mehr“ gebündelt hat. Doch diese Verfehlungen sind paradoxerweise immer gewollt. Sie werden daher zur Quelle ebenjener titelgebenden „Sehnsucht nach mehr“, die die drei Filme auf unterschiedliche Weise thematisieren.

In „Berlin, 10:56“ (19. September) nehmen Jean-Philippe Toussaint und Torsten Fischer die verfehlte Begegnung wörtlich. Eine aus Paris zurückgekehrte Fotografin sieht im Nachbarbus ihren Ex- Geliebten, einen Architekten, an den sie noch denkt: „täglich drei Minuten“. Aus der sicheren Distanz der Sachzwänge pflegen sie ihre „Sehnsucht nach mehr“ am Ende in einem langen melancholischen Telefonat. Und Christoph Doering erzählt in „Hotel Interim“ (27. September) die alte Geschichte vom Polizisten, der auf der Suche nach dem Mörder auf seine eigene Obsession stößt, in (fast) neuem Gewand; eine Mischung aus „The Element of Crime“, „Delicatessen“ und „Blade Runner“.

In „Geschwister“ wird Maria den Vergewaltigungsversuch mit dem Messer beenden; aber auch in den anderen beiden Filmen der Reihe birgt die „Sehnsucht nach mehr“ eine tödliche Dimension. Alle drei transportieren eine Aussage, über die es sich noch nachzudenken lohnt. Das mag ein Grund dafür sein, weswegen sie auf dem immer homogener und langweiliger werdenden Kinomarkt keine Chance haben. Mit „Sehnsucht nach mehr“ verabschiedet sich die Produzentin Brigitte Kramer aus der Redaktion des Kleinen Fernsehspiels. Ihr Name stand für etliche sorgsam betreute Fernsehfilme. Manfred Riepe