Großbritannien erhöht Leitzinsen

■ Tory-Regierung grenzt sich einen Tag nach dem Finanzministertreffen von der Mehrheit der EU-Länder ab, die sinkende Zinsen gefordert hatten / Vorbeugende Angst vor Inflation

Dublin (taz) – Großbritanniens Regierung hat gestern ihren Ruf, schlechte Europäer zu sein, bestätigt. Noch am Wochenende, beim informellen Gespräch der EU-Finanzminister und Notenbankchefs in Lindau, hatte Schatzkanler Kenneth Clarke zustimmend genickt, als seine Kollegen aus den übrigen EU-Ländern die hohen Zinsen beklagten: Um den Wirtschaftsaufschwung nicht abzuwürgen, müßten die Zinsen europaweit sinken, hatten sie übereinstimmend gefordert. Gestern dann tat die britische Regierung das Gegenteil: sie erhöhte, erstmals seit fast fünf Jahren, den Leitzins – um 0,5 auf 5,75 Prozent.

Schatzkanzler Kenneth Clarke sagte, daß Großbritannien die niedrigste Inflationsrate seit 25 Jahren habe, während Investitionen und Exporte stark gestiegen seien. „Ein früher Eingriff bedeutet, daß wir später nichts Drastisches unternehmen müssen“, sagte Clarke. „Bisher ist noch jedes Wirtschaftswachstum zum Stillstand gekommen, wenn die Inflation außer Kontrolle geriet“, sagte er. „Um das zu verhindern, haben wir mehr unternommen als jede andere westliche Regierung.“ Die Inflationsrate liegt zur Zeit bei 2,2 Prozent, während sie im Land der bisher als strengste Währungshüter geltenden deutschen Bundesbank bei 3 Prozent liegt.

Die Erhöhung des Leitzinses wurde vermutlich durch unerwartet hohe Preissteigerungen im Produktionsbereich ausgelöst. Clarke hatte sich vor sechs Tagen mit Eddie George, dem Direktor der Bank von England, beraten. Es heißt, daß George die treibende Kraft hinter der Leitzinserhöhung war. Premierminister John Major bezeichnete die Maßnahme als „kluge Entscheidung“, und auch der einflußreiche Ausschuß der Tory-Hinterbänkler signalisierte seine Unterstützung.

Die britische Handelskammer hält die Erhöhung dagegen für voreilig und warnt, daß dadurch die wirtschaftliche Erholung gebremst werden könnte. Der stellvertretende Direktor Richard Brown sagte: „Es gibt keine Rechtfertigung für diese Zinserhöhung.“ Er fügte hinzu, daß es sicherer gewesen wäre, etwas abzuwarten, da der Immobilienmarkt nach wie vor schwach sei. Die zweitgrößte britische Bausparkasse, Nationwide, reagierte gestern umgehend und setzte die Zinsen um 0,4 Prozent auf 8,14 Prozent hinauf.

Auch Labour-Chef Tony Blair kritisierte den Schatzkanzler. Er sagte, die Maßnahme beweise, daß es den Torys nicht gelungen sei, ein Wirtschaftswachstum aufrechtzuerhalten, ohne die Inflation anzuheizen. Damit haben die Torys laut Blair Arbeitsplätze und Lebensstandard in Gefahr gebracht.

Ralf Sotscheck