An die Moderne will ich ganz nah ran

■ Der neue Generalmusikdirektor Markus Stenz über Bremer Zukunftsmusik/ heute in der Glocke

Seit Frühsommer ist klar, daß Markus Stenz (29) ab Herbst '95 der neue Generalmusikdirektor von Bremen werden soll, nachdem sich Bremen zwei Jahre lang Zeit für die Suche genommen hatte. Und schließlich einen fand, der zu den begabtesten jungen Dirigenten unserer Zeit zählt, und unter anderem bei Leonard Bernstein gelernt hat. Heute abend kommt Markus Stenz mit der „London Sinfonietta“ im Rahmen des Musikfestes nach Bremen, zur „Premiere vor der Premiere“.

Der Intendant des Bremer Theaters, Claus Pierwoß, verkündete nach Ihrem Probedirigat im Mai, es habe „direkt gezündet“. Sind Sie auch für Bremen entflammt?

Sonst würde ich ja nicht kommen. Es gibt viele junge Gesichter im Orchester, ich habe bei vielen gemerkt, daß da tatsächlich ein Funke überspringt. Ich hab mir damals vorgestellt, daß man in Bremen Sachen machen kann, die bewegen, die berühren und die Spaß machen.

Bestimmte Stücke oder bestimmte Präsentationen? Welche Projekte schweben Ihnen vor?

Daran hab ich nun wiederum nicht konkret genug gearbeitet. Ich habe ja auch den Vertrag noch nicht unterzeichnet. Ich möchte mit Herrn Pierwoß ein möglichst langfristiges Konzept, für das Musiktheater zum Beispiel, finden und abstimmen. Da sind wir wohl beide noch nicht so weit.

Wird es künftig mehr Zeitgenössisches in Bremen geben?

Gibt's ja bis jetzt fast kaum. Ich werde also durchaus Uraufführungen machen wollen in Bremen.

Wie jüngst die der „Bassariden“ von Hans Werner Henze an der Hamburger Staatsoper?

Ob wir jetzt direkt im Opernrepertoire zuschlagen, sei dahingestellt; ich denke aber schon, daß auch Henze in Bremen zu hören sein wird. Oder so ein wichtiges Stück wie Wozzeck, das war sechzehn Jahre lang nicht in Bremen. Das muß man natürlich machen. Das heißt aber nicht, daß ich nicht genauso Lust habe, mich an den Klassikern für Bremen zu versuchen. Ich denke aber, daß es nicht reicht, älteren Stücken eine künstliche Aktualität anzuinszenieren, indem man sie verfremdet oder auf den Kopf stellt. Ich denke, es gibt da noch einen viel einfacheren Weg, wenn man nämlich die aktuellen Stücke spielt, die Stücke, die 1994 oder 95 geschrieben werden. Dann ist man wirklich ganz nah dran. Das möchte ich für Bremen neu entdecken.

Zu Ihrem Musikfest-Konzert heute abend gehen Sie mit der London Sinfonietta, dem Aushängeschild für die Avantgarde in England, in die Glocke. Dieser wird nachgesagt, daß ihr noch der Mief des 19. Jahrhunderts anhaftet.

Na ja, es klingt ganz gut dort – ich kenne die Glocke von meinem Probedirigat – der Rest muß halt durch die Stimmung im Konzert passieren. Das hab ja nicht ich entschieden, daß wir da reingehen, sondern die Leute vom Musikfest.

Diese setzen ja mit ihrem Programm vor allem auf die Publikumsrenner, die Klassiker. Die London Sinfonietta verspricht da einen der wenigen ungewöhnlichen musikalischen Farbtupfer.

Die Schönberg-Kammersymphonie, die wir heute spielen, ist ja genauso ein Klassiker, ein herausragender Klassiker der Moderne. Vielleicht wird es in absehbarer Zeit mehr Stücke geben, die sich in diesen Bereich hineinspielen. Wo man dann einfach sagt, das ist genauso ein Klassiker wie eine Haydn-Sinfonie ein Klassiker sein kann. Vielleicht ist das ja viel zu idealistisch gedacht, und vielleicht auch dafür noch ein bißchen früh.

Sie wollen die BremerInnen dahingehend schulen?

Sie werden nicht erleben, daß sich Markus Stenz hinstellt und sagt, das und das müssen wir machen. Es gibt im Englischen diesen schönen Begriff „patronising“. Dafür hab ich wenig übrig. Natürlich möchte ich mein persönliches Statement abgeben. Ich versuche auch für mich, Stücke auszuwählen, die ich füllen kann, weil ich sie verstehe, weil ich denke, daß sie Sinn machen. Aber ich finde, es muß bei einer gewissen Neugier losgehen. Ich werde alles tun, um diese Neugier beim Publikum zu schüren.

Sie selbst sind über den Jazz eingestiegen.

Es war ziemlich ungewöhnlich für mich, daß ich doch relativ spät die ganzen wichtigen Stücke der klassischen Musikliteratur kennengelernt habe. Ich war neunzehn, als ich die erste Brahms-Symphonie gehört habe. Da ist man aber dann auch wach. Durch das Klavierspielen und das Ausprobieren aller möglichen Instrumente. Das Ohr war geschult, und in diese Aufnahmebereitschaft hinein sich das klassische Repertoire zu erschließen, ist schon ungeheuer spannend.

Sie sind jetzt Chefdirigent der London Sinfonietta geworden.

Ich stehe mit der Band bis 1997 unter Vertrag.

Das wird sich dann mit Bremen überschneiden.

Ja, das wußte man aber auch vorher. Ich hab mir gründlich überlegt, ob man die beiden Sachen vereinbaren kann. Es wird gehen. Es hat sogar den Vorteil, daß ich dann nicht noch zusätzlich auf Biegen und Brechen in der Welt herumjetten muß. Fragen: Silvia Plahl

Heute dirigiert Markus Stenz Werke v. Schönberg, Webern, Benjamin, Birtwistle und Knussen. 20 Uhr, Glocke