„Hier ist alles beim alten geblieben“

Knapp zwei Wochen nachdem die Irisch Republikanische Armee (IRA) ihren Waffenstillstand erklärt hat, herrscht unter Katholiken und Protestanten in der nordirischen Hauptstadt Skepsis  ■ Aus Belfast Ralf Sotscheck

An den Anblick muß man sich erst gewöhnen: Seit vergangenem Donnerstag tragen die britischen Soldaten auf Patrouille in Belfast keine Helme mehr, sondern die Mützen ihres jeweiligen Regiments. Der Wechsel der Kopfbedeckungen ist bisher die einzige sichtbare Veränderung seit dem Waffenstillstand der Irisch-Republikanischen Armee (IRA) vor knapp zwei Wochen.

„Was die Soldaten auf dem Kopf tragen, ist mir wurscht“, sagt Veronica Moore. „Ich will Frieden, aber hier ist alles beim alten geblieben. Die Soldaten und die Bullen treiben sich noch immer auf den Straßen herum und schikanieren die Jugendlichen.“ Die dünne, etwa vierzigjährige Frau hat ihre rote Strickjacke wegen der spätsommerlichen Temperaturen über den Gartenzaun gehängt und sammelt das Bonbonpapier auf, das Kinder in ihren Vorgarten geworfen haben. Sie glaubt nicht, daß der Waffenstillstand halten wird. „Wir alle haben Angst vor einem loyalistischen Überfall“, sagt sie. „Wenn das passiert, werden unsere Jungs zurückschlagen. Ich werde die Eisenstäbe an meinen Fenster jedenfalls noch nicht abmontieren. Ardoyne ist so leicht verwundbar.“

Das katholische Viertel Ardoyne liegt im Nordwesten der nordirischen Hauptstadt, eine katholische Insel inmitten protestantischen Gebiets. Um das Viertel, das als Geburtsort der IRA gilt, verläuft ein schmaler Gürtel Brachland als Pufferzone sowie ein Gitterzaun, an dem Sichtblenden aus Wellblech angebracht sind. Es gibt nur zwei Zufahrten, alle anderen Straßen sind zugemauert oder mit Schranken abgesperrt. Wer sich nicht auskennt, verirrt sich leicht im Labyrinth der Sackgassen mit den roten Backsteinhäusern, die alle gleich aussehen. Auf den Schildern an den Eckhäusern steht mal der englische, mal der irische Straßenname: „Duneden Park“ oder „Pairc Dhun Eideann“.

Ardoyne gehört zu den am stärksten benachteiligten Gegenden Großbritanniens. 6.600 Katholiken leben hier auf anderthalb Quadratkilometern, die Arbeitslosigkeit liegt bei 47 Prozent. Ein Drittel der Einwohner ist unter 16, Spielplätze oder Freizeiteinrichtungen sucht man jedoch vergeblich. „Für die Erwachsenen gibt es genauso wenig“, sagt Veronica Moore, „zehn Kneipen und Clubs, das war's.“ Ihre Angst vor Überfällen loyalistischer Organisationen ist begründet, in den 25 Jahren des Konflikts sind 180 Einwohner Ardoynes von ihnen umgebracht worden.

„Alle Leute, die ich kenne, begrüßen den IRA-Waffenstillstand“, sagt Liam, ein weißhaariger Rentner, der sein Leben lang in Ardoyne gewohnt hat, „aber niemand will schutzlos abwarten, was passiert.“ Er hält es für unwahrscheinlich, daß die IRA ihre Waffen herausrückt. „In Palästina oder Südafrika fand auch keine Waffenübergabe statt“, sagt er, „warum soll das in Belfast passieren? Warum soll die IRA ihr bestes Argument aus der Hand geben?“ Er erinnert sich an das Jahr 1921, als zahlreiche IRAler ihre Gewehre und Pistolen auf die Straße warfen. Anderthalb Stunden später kamen Loyalisten, zerstörten die Waffen und töteten alle, die ihnen in die Quere kamen.

Aber nicht alle sind pessimistisch. Mary O'Neill sagt, sie danke Gott für den Waffenstillstand. Drei ihrer fünf erwachsenen Kinder sind wegen des Konflikts in die USA ausgewandert. Sie rechnet fest damit, daß die Gelder aus den USA, die Präsident Bill Clinton in Aussicht gestellt hat, eine politische Lösung des Konflikts beschleunigen werden: „Wenn es den Menschen beider Bevölkerungsgruppen wirtschaftlich gutgeht, bringen sie sich nicht mehr gegenseitig um.“ Ob Irland irgendwann vereinigt wird, spielt für sie keine große Rolle. „Aber die Polizei muß reformiert werden“, sagt sie, „vielleicht könnte man eine gemeinsame Polizei für Nord- und Südirland aufstellen.“ Von den angeblichen Plänen, die IRA in eine Art offizielle „Ghetto-Polizei“ umzuwandeln, um Vandalismus, Joyriding und Kleinkriminalität in Schach zu halten, hält sie nichts: „Das würden die Loyalisten niemals hinnehmen, und wir in Ardoyne wären bei den Auseinandersetzungen zwischen ihnen und der IRA wieder die Dummen.“

Die Giebel der drei Häuser am Ende des Havana Way sind mit riesigen Wandgemälden verziert, die mit kräftigen Farben und vielen Details einen Ausschnitt aus dem kulturellen Erbe Irlands zeigen: einen Dudelsackspieler, eine Geschichtenerzählerin, eine Szene aus einem Hurling-Spiel, dem schnellsten Mannschaftsspiel der Welt. „Neulich waren ein paar holländische Touristen hier“, erzählt Patrick Kelly, der seit einer Woche wieder von der Stütze lebt, weil seine ABM-Stelle als Schriftsetzer abgelaufen ist. „Die sind von der britischen Armee hierhergeschickt worden. In Ardoyne gibt es die schönsten Wandgemälde, hat einer der Soldaten zu ihnen gesagt. Vielleicht können sich die Soldaten später als Fremdenführer betätigen, wenn der Frieden ausbrechen sollte. Schließlich kennen sie jeden Winkel hier.“

Zweihundert Meter die Straße hoch steht ein ausgebranntes Autowrack quer auf der Straße. Fünf Kinder springen darauf herum und versuchen, sich gegenseitig herunterzuschubsen. Als eine Armeepatrouille des schottischen Bataillons „Argyle and Southern Highlanders“ langsam vorbeigeht, unterbrechen die etwa Zehnjährigen ihr Spiel und machen sich über die schwarz-weißen Mützen lustig, die von weitem wie Papierschiffchen aussehen. Die acht Soldaten ignorieren die Kinder und laufen weiter zum Ende der Straße, wo seit zwanzig Jahren eine gelbe Schranke den Weg für Autos versperrt. Die Soldaten gehen um die Schranke herum und biegen in die Crumlin Road ein, die hinunter ins Stadtzentrum führt.

Auf der anderen Seite der Crumlin Road, nur einen Steinwurf von Ardoyne entfernt, beginnt am Fuß der Belfaster Berge die Glencairn-Siedlung. In den grauen Betonkästen mit ihren zwei bis vier Stockwerken leben etwa dreitausend Protestanten. Viele Wohnungen stehen leer, die Fensterscheiben werden von Kindern eingeworfen, kaum daß die Bewohner weggezogen sind. Den Leuten in Glencairn geht es nicht besser als ihren Nachbarn in Ardoyne: Die Arbeitslosigkeit beträgt 60 Prozent, die Infrastruktur fehlt völlig. Es gibt weder einen Supermarkt noch ein Postamt, nicht mal eine Kneipe. „Die Menschen leben wie auf einer Müllkippe“, sagt Ellen, eine alleinerziehende Mutter, „aber in einem vereinten Irland würde es uns noch schlechter gehen.“

Auf eine Hauswand hat jemand mit schwarzer Farbe in Großbuchstaben geschrieben: „31. August 1994: Adams gibt auf, die Loyalisten sind noch immer ungeschlagen.“ Es ist wie ein Pfeifen im dunklen Wald, die meisten in Glencairn sind zutiefst mißtrauisch. „Eine Unverschämtheit“ findet es Ellen, daß die britische Regierung den irischen Ministerpräsidenten Reynolds „seine Nase in unsere Angelegenheiten stecken läßt“. Zwar bildeten Nordirland und der Süden „eine geographische Einheit“. Aber das sei auch mit Kanada und den USA so, und Bill Clinton mische sich nicht in die Angelegenheiten des nördlichen Nachbarn. „Viele glauben, daß es Pläne gibt, Irland über einen Zeitraum von fünf oder zehn Jahren zu vereinigen“, meint die Protestantin. „Manche reden schon von einem Bürgerkrieg, als wenn er unausweichlich wäre. Wir können eigentlich niemandem mehr trauen, wir sind doch von den Politikern immer wieder beschissen worden.“

Jimmy, ein Sozialarbeiter, widerspricht ihr. „Wir können unserer eigenen Kraft vertrauen“, sagt er. „Ich glaube, die IRA hat verloren, sie hat die Waffen niedergelegt, ohne ihr Ziel erreicht zu haben – es gibt kein vereinigtes Irland. Wenn die britische Regierung jetzt die Truppen in Nordirland reduziert und ein paar IRA- Gefangene freiläßt, dann tut uns das nicht weh.“

Die Glencairn-Siedlung zieht sich an einem Hügel hoch, vom Wendekreis am Ende der Straße hat man einen guten Blick auf Belfast. Die nordirische Hauptstadt liegt zwischen der Belfaster Bucht und den Bergen im Hinterland. Vom oberen Teil Glencairns sieht man den Hafen mit den beiden Kränen „Samson“ und „Goliath“, die zur Großwerft „Harland and Wolff“ gehören. Dort lief 1910 die Titanic vom Stapel. Heute ist die Werft ein Symbol für den Niedergang der nordirischen Wirtschaft, die seit der Teilung der Insel von Protestanten beherrscht war. „Harland and Wolff“ entließ seit dem Krieg mehr als 20.000 Arbeitskräfte und wird durch massive Subventionen am Leben erhalten. Grundig, Olympia, Demag und British Enkalon haben sich aus Nordirland zurückgezogen, und in der einst florierenden Textilindustrie arbeiten inzwischen nur noch eine Handvoll Menschen.

„Ich habe andere Sorgen, als mir über den IRA-Waffenstillstand den Kopf zu zerbrechen“, sagt denn auch Ian Smyth, der mit seinem Mischlingshund den schmalen Fußweg entlangläuft. Der Sechzigjährige ist seit fünf Jahren Frührentner. „Ende des Monats sind die Fernsehgebühren fällig, das macht mir Sorgen.“ In der rechten Hand trägt er eine blaue Plastiktüte, durch die zwei Tüten Milch schimmern, die er unten in Ballygomartin eingekauft hat. In der karierten Jacke und der Tweedmütze sieht er aus wie ein irischer Farmer. Als ob er Gedanken lesen könnte, sagt er: „Ich fühle mich als Brite. Wir werden immer als die Bösen hingestellt, und die in Ardoyne als die Guten.“ Nach einer Pause fügt er hinzu: „Es gibt wenig Menschen in Nordirland ohne Blut an den Händen. Loyalisten haben Leute in Ardoyne umgebracht, und die aus Ardoyne haben welche von uns getötet.“ Er zeigt auf die Graffiti an einer Mauer. „Kill all Taigs“, steht da geschrieben. „Taig“ ist ein Schimpfwort für Katholiken. „Der Waffenstillstand war überfällig“, sagt er, aber vertreiben läßt er sich nicht. „Vor ein paar Jahren haben noch fünftausend Menschen in Glencairn gewohnt. Die Politiker wollen diesen Teil der Stadt den Katholiken übergeben, aber ich bleibe hier, auch wenn ich im Zelt leben müßte. Und ein vereinigtes Irland lasse ich mir schon gar nicht aufzwingen.“