Phantastische Wahrheiten über Dagobert

■ Sitzt in Moabit der richtige Dagobert? / Der Zweifel und seine zwölf Varianten

Andreas Kögel ist deprimiert. Seit der Sachbearbeiter im polizeilichen Innendienst die Sondermeldungen über die Festnahme des Kaufhauserpressers Dagobert gehört hat, versteht er die Welt nicht mehr. Denn soviel ist klar: Die Verhaftung des Mariendorfer Schildermalers Arno F., eines Arbeitslosen, ist eine polizeiliche Finte. Erstaunlich findet er, daß sich keiner darüber wundert, daß der als technisch versiert geltende Kaufhauserpresser nicht einmal in der Lage war, den Anlasser seines Autos zu reparieren. Der Schildermaler, der sich sein Wissen über Sprengstoff, Funktechnik und Elektronik angelesen haben will? Pah! Wer, fragt sich Kögel, soll diese Grütze eigentlich glauben? Alles ein gigantischer Bluff der Polizei. Denn schließlich war er es, Kögel, der gemeinsam mit einem Freund Werner, einem Polizeibeamten vom Mobilen Einsatzkommando, den Kaufhauskonzern erleichtern wollte. Doch die zentrale Frage bleibt: Warum macht die Sonderkommission dieses durchsichtige Spiel mit? Will die Kripo ihn, den wirklichen Erpresser, nur in Sicherheit wiegen, um dann zum finalen Schlag auszuholen?

Nein, eigentlich war es ganz anders. Der Kaufhauserpresser ist eine Frau. Und zwar keine andere als die Gattin des Leiters der Soko Dagobert, Lilo Kunze. Die 35jährige Mutter von zwei Kindern war bestens über den jeweiligen Stand der Ermittlungen informiert. Und daß sie es war, erfährt die Undercoveragentin Giese im Zuge ihrer verdeckten Ermittlungstätigkeit für das BKA. Da sie keine Nestbeschmutzerin ist, behält sie ihre Erkenntnisse aber lieber für sich. Wo doch Arno F., der unschuldig in U-Haft sitzt, ohnehin schon ein Geständnis abgelegt hat, aus welchem Grund auch immer. Da hält sich die Ermittlerin lieber raus. Immerhin hat sie einen Job zu verlieren.

Die Dinge sind oft anders als sie scheinen, und die Wirklichkeit ist nur eine von vielen Möglichkeiten. Mit einigen davon setzt sich der von dem Krimi-Autoren „-ky“ herausgegebene Erzählband zum Thema Dagobert auseinander. Dreh- und Angelpunkt der zwölf Geschichten ist die Frage nach der Identität des Kaufhauserpressers, nachdem Zweifel daran aufgekommen waren, daß sich einer, der zwei Jahre lang dem bestens organisierten Fahndungsapparat trotzt, ganz unspektakulär beim Telefonieren festnehmen läßt.

Ist Arno F., den die Polizei am 23. April aus einer Treptower Telefonzelle zerrte und stolz als Dagobert präsentierte, in Wahrheit von Staat und Kaufhauskonzernen gekauft? Irgendein armer Teufel, den man den Täter spielen läßt? Schließlich stand die Polizei unter erheblichem Erfolgszwang, nachdem ihr, neben anderen Mißgeschicken, der Fahndungserfolg auch noch buchstäblich auf Hundehäufchen entglitten war.

Arno F. als Opfer einer Inszenierung in der Art des Celler Lochs? Einer, den man mit drei Jahren Haft davonkommen läßt, damit er anschließend auf Staatskosten mit neuer Identität irgendwo in Florida ein schönes Leben führen kann, wie der Soziologieprofessor Bosetzky vermutet? Denn der besteht gegenüber dem Untersuchungsrichter Dr. Kolläne darauf, der wahre Dagobert zu sein. Dennoch glaubt ihm der Untersuchungsrichter kein Wort, weil der Professor nun schon der zehnte angebliche Dagobert ist. Auf die Frage des Untersuchungsrichters, warum er, ein renommierter Soziologieprofessor und erfolgreicher Schriftsteller, denn unbedingt Dagobert sein wolle, begründet Bosetzky das mit dem Wunsch nach Anerkennung: „Wir sind unersättlich, wenn es darum geht, geliebt, gelesen und beachtet zu werden.“

In der Tat: Wäre Popularität ein juristischer Strafmilderungsgrund, müßte man den in Moabit einsitzenden mutmaßlichen Dagobert freilassen. Er wäre dieser Premiere würdig. Und das ist allemal ein Buch wert. Peter Lerch

-ky (Hrsg.): „Phantastische Wahrheiten über Dagobert. Zwölf Geschichten um den Kaufhaus-Erpresser“. Argon Verlag 1994.