Boxer Mečiar technisch k.o.

Zwei Tage lang, am 30. September und am 1. Oktober, finden in der Slowakei vorgezogene Parlamentswahlen statt  ■ Aus Bratislava Sabine Herre

Vladimir Mečiar hat abgenommen. Seit seiner Abwahl als Ministerpräsident der Slowakischen Republik im März dieses Jahres hat der ehemalige Boxer 25 Kilo verloren. Seine neue Bewegungsfreiheit nützt er für eine alte Leidenschaft – und eine andere Form des Wahlkampfs. In Košice tritt Mečiar mit seiner „Bewegung für eine demokratische Slowakei“ (HZDS) zum Match gegen die alten Herren des örtlichen Fußballclubs „Lokomotive“ an, in Nitra spielt er gegen die JournalistInnen seiner Hauspostille. „Slovensko, do toho!“, „Vorwärts, Slowakei!“ ist nicht nur ein Schlachtruf slowakischer Fußballfans. „Slovensko, do toho!“, das ist auch der Wahlkampfslogan der HZDS.

Vladimir Mečiar ist in diesem Wahlkampf überall. Vom Fußballstadion in die Bischofsresidenz, von der Pressekonferenz in die Fabrik. Selbst da, wo er nicht ist, wird vor allem über ihn geredet. Als der slowakische Präsident Michal Kováč am Vorabend des ersten Wahlkampftages in einer zehnminütigen Fernsehansprache über die parlamentarische Demokratie spricht, könnte er mit einem Satz auskommen: „Wählt am 30. September nicht erneut Mečiar, denn er wird das parlamentarische durch ein präsidiales System ersetzen und dann selbst Präsident werden.“ Die stellvertretende Ministerpräsidentin Brigita Schmögnerová ist der Ansicht, daß das Land selbst bei den Wahlen vor zwei Jahren, bei denen es immerhin um die Teilung der Tschechoslowakei ging, nicht so gespalten war. „Fünfzig Prozent sind für, fünfzig Prozent gegen Mečiar.“ Mečiar aber sagt: „Bei diesen Wahlen geht es nicht um pro oder contra Mečiar. Es geht um die Slowakei.“

Der „Kampf um die Slowakei“ beginnt für die HZDS im Fußballstadion Bratislava-Petržalka. Rund 2.000 ZuhörerInnen sind gekommen, aus Bratislava, aber auch aus den nahen Kreisstädten Nitra und Trnava. Weit über die Hälfte der Mečiar-AnhängerInnen sind Frauen, Rentnerinnen. Der Ausflug in die Hauptstadt ist für sie ein Happening, ein Autogramm des „Premiers“ – viele wollen seine Abberufung einfach nicht zur Kenntnis nehmen – das, was sie von diesem Tag erhoffen. Das am Eingang des Stadions hängende Porträt Mečiars wird von einer alten Frau liebevoll gestreichelt: „Da ist er ja, unser Junge“, sagt sie.

Mečiar weiß, was seine Fans erwarten. Seine Wahlveranstaltungen folgen einer klaren Dramaturgie, er bestimmt die Gefühle. Von Sentimentalität zu Haß, von Haß zu Hoffnung. Der erste Auftritt gehört so einem etwa sechsjährigen Mädchen. Mit hoher Stimme singt es von der geliebten Heimat, die es nie verraten wird. Danach folgt der Generalangriff auf alle diejenigen, die diesen Verrat angeblich begangen haben. Präsident Kováč, der zum Mißtrauensvotum gegen den „vom Volk gewählten“ Mečiar aufrief. Abtrünnige HZDS-Mitglieder, die die Abwahl des Premiers erst möglich machten. Die neue Koalitionsregierung unter Ex-HZDSler Jozef Moravčik, die das nationale Eigentum an ausländische Investoren verschleudert. Die ungarische Minderheit, die den Slowaken ihre Kultur aufzwingen will. Mečiar spricht frei, ohne Manuskript, ohne auch nur einmal die Stimme zu heben. Und ab und zu, das müssen selbst seine politischen Gegner zugestehen, kann er auch richtig witzig sein.

„Die Arbeiter sind streikbereit“

In Bratislava-Petržalka wird deutlich, warum es zur Teilung der Tschechoslowakei kommen mußte. Die jungen, dynamischen Männer in ihren gut geschnittenen westlichen Anzügen, die das Bild der stärksten Partei der Tschechischen Republik prägen, sie fehlen hier ganz. Hier gibt es keine mobilen Telefone, wer ein weißes Hemd trägt, fällt auf. Und obwohl das Stadion mitten in der Hauptstadt liegt, herrscht eine dörfliche Atmosphäre. Für den Premier hat man eine Schüssel noch warmen Breis mitgebracht, ein Zuhörer empört sich über die Marmorpaläste der Banken. „Kein Wunder, daß sie dann kein Geld für Kredite mehr haben.“ Als Mečiar sich gegen den „Verkauf des nationalen Eigentums“ ausspricht, gibt es den längsten Applaus des Abends. Der Ex-Premier: „Wir werden unsere Betriebe verteidigen, ich weiß, daß es bereits Streikkomitees gibt.“ Das Stadion gleicht einer riesigen Gerüchteküche, und die Redner der HZDS schüren das Feuer.

Mečiars Ziel ist klar: Um die „Verräter“ zu stoppen, will er bei den Wahlen die absolute Mehrheit erringen. Denn dann braucht die HZDS keinen Koalitionspartner mehr, dann hat der „junge Baum Slowakei“ eine sichere Zukunft, dann werden die Gehälter verdoppelt. Doch der Ex-Premier geht noch einen Schritt weiter: Um eine erneute Abwahl durch das Parlament zu verhindern, kündigt er tatsächlich die Einführung des präsidialen Systems an. Am Ende der zweistündigen Veranstaltung klammert sich eine etwa sechzigjährige Frau an den schwarzen Gitterzaun, hinter dem sich Mečiar mit seinen engsten Vertrauten aufhält. Den Kopf weit in den Nacken gelegt, den Blick zum Himmel gerichtet, singt sie mit lauter Stimme das Lied des kleinen Mädchens nach. Slovensko, do toho.

Und doch wird Mečiar seinen „Kampf um die Slowakei“ wohl nicht gewinnen. Denn zum ersten Mal ist es seinen Gegnern gelungen, ihre partikulären Parteiinteressen zu überwinden und sich zu größeren Wahlplattformen zusammenzuschließen. So tritt die zweitstärkste Partei des Landes, die exkommunistische „Demokratische Linke“ (SDL), zusammen mit den Sozialdemokraten des vor zwei Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen Alexander Dubčeks, den Grünen und der „Bewegung der Landwirte“ unter der Bezeichnung „Gemeinsame Wahl“ an. Im gemeinsamen Wahlprogramm haben dabei vor allem die Grünen ihre Spuren hinterlassen. Kaum ein Abschnitt, in dem es nicht um die ökologische Dimension der Ökonomie geht, „grüne“ Wirtschaft sei die „aktuelle Aufgabe“. Gleichzeitig hat das Programm – und hier unterscheiden sich die vier Parteien nicht von der HZDS – aber auch eine populistische Note. Der Übergang zur Marktwirtschaft wird zwar unterstützt, man dürfe aber nicht zulassen, „daß ein kleiner Teil der Gesellschaft in unermeßlichem Reichtum lebe, den er nicht verdient habe“. Gefordert werden „vorrangige Investitionen für Bildung, Gesundheitswesen, Kultur und Sport“ – aber kein Wort im Programm, wie das finanziert werden soll. Entgangen ist den Autoren auch, daß die Forderung, die „Ernährungssicherheit der Slowakei unter Berücksichtigung der historischen Erfahrungen der Kollektive“ wiederherzustellen, mit dem „grünen Wirtschaften“ kaum zu vereinbaren sein dürfte.

Allzu große Bedeutung kommt dem Wahlprogramm aber ohnehin nicht zu. Denn seit der Abwahl Mečiars stellt die SDL gemeinsam mit der „Christdemokratischen Bewegung“ (KDH) und der „Demokratischen Union“ (DU) die Regierung, und so setzt sie bei den Wahlveranstaltungen ihre Minister als Joker ein. Zum Wahlkampfauftakt in der zentralen Halle des „Parks für Kultur und Erholung“ in Bratislava gibt es – im Unterschied zur HZDS – keine Diskussionen. Statt dessen dürfen die rund zweitausend ZuhörerInnen die Drei-Minuten-Statements der PolitikerInnen und ein bißchen auch sich selbst beklatschen. Verteidigungsminister Pavol Kanis: „Was sind wir alle doch für tolle Jungs.“ Den größten Teil des Abends füllen jedoch die Folkloredarbietungen eines slowakischen Tanzensembles.

Neben der für ihre wirtschaftliche Kompetenz geschätzten Brigita Schmögnerová ist der Verteidigungsminister der Star des Abends. Ähnlich wie Mečiar verkörpert er den Typ des Politikers, der „die Sprache des Volkes spricht“. „Die Slowakei ist schön“, so der frühere Mitarbeiter des Instituts für Marxismus und Leninismus in Bratislava, „am schönsten aber ist sie vom Hubschrauber aus.“ Und weiter: „Zwar ist unser Land im Moment nicht bedroht, doch wenn es angegriffen wird, werden und können wir es verteidigen.“ Daß sein Hinweis auf eine Mitgliedschaft der Republik in der Nato auf weniger Beifall stößt als die anderen Statements, offenbart ein Dilemma der SDL. Um ihre älteren Mitglieder nicht vor den Kopf zu stoßen, verhält sie sich bei der Nato-Frage zurückhaltend, eine endgültige Entscheidung soll erst eine Volksabstimmung bringen. Die Regierung dagegen muß, um das von Mečiar auf eine schwere Probe gestellte Vertrauen des Auslands nicht ganz zu verlieren, ihren prowestlichen Kurs ohne Einschränkungen einhalten.

Nicht nur an politischem Gewicht verloren hat SDL-Chef Peter Weiss. Immer magerer war der „Politiker des Jahres“ anzusehen, als im Winter wochenlang darüber diskutiert wurde, ob die linke Partei gemeinsam mit den Christdemokraten oder mit der HZDS eine Regierung bilden soll. Seine Hoffnung, durch die Regierungsbeteiligung der SDL von ihrer kommunistischen Vergangenheit abzulenken und die Zwanzigprozentmarke zu überspringen, hat sich nicht erfüllt. „Viele nehmen uns die Zusammenarbeit mit den Konservativen übel“, meint Brigita Schmögnerová. „Sie sind inzwischen zur „Vereinigung der Arbeiter der Slowakei“ abgewandert.“

„In der KP gab es auch ehrliche Leute“

Die Rechts-Links-Koalition beunruhigt aber auch viele WählerInnen der anderen Seite. Bei einer Wahlveranstaltung im mittelslowakischen Banska Bystrica geht der christdemokratische Innenminister Ladislav Pittner zuerst auf dieses Thema ein: „Ich glaube Peter Weiss, wenn er sagt, daß in seiner Partei nur zehn Prozent ehemalige Kommunisten sind.“ Und schließlich, so der praktizierende Katholik, der in den fünfziger Jahren wegen „antistaatlicher Aktivitäten“ zu drei Jahren Gefängnis verurteilt worden war, seien in der KP ja auch ehrliche Leute gewesen. Deutlich grenzt sich Pittner dagegen von der HZDS und ihren exkommunistischen Mitgliedern ab. „Die früheren Internationalisten sind jetzt die größten Nationalisten.“ Obwohl die KDH als eine der ersten Parteien über eine selbständige Slowakei zu diskutieren begann, sind bei ihr nun die wenigsten nationalen Parolen zu hören. Die Zusammenarbeit zwischen SDL und KDH kann funktionieren, da die Politik der vermeintlich „rechten“ Christdemokraten sich durch eine starke soziale Komponente auszeichnet und die SDL mit Brigita Schmögerová eine Ministerin stellt, die in wirtschaftlichen Fragen als die „liberalste“ des ganzen Kabinetts gilt. Verkehrte slowakische Welt: Den direkten Verkauf fünf großer slowakischer Unternehmen lehnten die Regierungsmitglieder der KDH ab – im Unterschied zu den SDL-Politikern, denen besonders gute Kontakte zu den Industriegiganten nachgesagt werden.

Als das slowakische Parlament im März Mečiar abwählte und den Termin der vorgezogenen Neuwahlen festsetzte, waren die Kritiker sich einig: „Es ist ein Fehler, den größten Populisten des Landes als Führer der Opposition in den Wahlkampf ziehen zu lassen. Die wirtschaftlichen Probleme der Slowakei, für die er als ehemaliger Premier verantwortlich ist, wird er als Mißerfolge der jetzigen Regierung darstellen.“

Große Koalition wird fortgesetzt

Doch diese Prognosen haben sich nur teilweise bestätigt. Zwar nützt Mečiar jede Gelegenheit für seine – unbelegte – Behauptung, die jetzige Regierung hinterlasse ein Haushaltsminus von 50 Milliarden Kronen. Andererseits stehen der Regierung des osteuropäischen Transformationsstaats weitaus mehr „Propaganda“-Instrumente zur Verfügung als der Opposition. Das staatliche Fernsehen und die staatliche Presseagentur sind ihr Sprachrohr, und wenn irgendein Minister eine Delegation aus der Niederen Tatra empfängt, unterscheiden sich die Berichte darüber kaum von denjenigen realsozialistischer Zeiten.

Die Regierung von Jozef Moravčik hat aber auch eine Reihe tatsächlicher Erfolge vorzuweisen: die Devisenreserven konnten gesteigert, das Haushaltsdefizit verringert werden. Die Inflationsrate ist stabil, und die ausländischen Interessenten zeigen wachsendes Interesse. Immer wieder haben sich die Minister in den vergangenen sechs Monaten zu überparteilichen Kompromissen gezwungen. Sie wissen nur zu gut, daß die „anständigen Slowaken“ angesichts der Stärke der HZDS „zusammenhalten“ müssen. Pünktlich zum Wahlkampfbeginn gab der Ministerpräsident den Startschuß zur zweiten Welle der Kuponprivatisierung.

Der Fortsetzung der großen Koalition scheint somit wenig im Wege zu stehen. Zwar ist die HZDS den Meinungsumfragen zufolge mit 28 Prozent nach wie vor die stärkste Partei der Slowakei. Gegenüber den Wahlen von 1992 hat sie jedoch 5,5 Prozent verloren, und selbst in einer – noch ungewissen – Koalition mit der extremistischen „Slowakischen Nationalpartei“, die derzeit auf 6 Prozent kommt, könnte sie mit der Regierungskoalition lediglich gleichziehen: Die „Gemeinsame Wahl“ liegt bei 19 Prozent, die KDH bei 9,5, die Demokratische Union von Ministerpräsident Moravčik bei 5,5 Prozent. Regierungsmacher in diesem allseits erwarteten Patt wären somit die drei Parteien der ungarischen Minderheit des Landes, die ebenfalls zum ersten Mal gemeinsam kandidieren und rund 8 Prozent der Stimmen gewinnen dürften. Als Bedingung für ihre Regierungsbeteiligung hat SDL- Vorsitzender Weiss bereits einen Verzicht auf die Forderung nach regionaler Autonomie eingeklagt. Da die Ungarn jedoch der Ansicht sind, lediglich kulturelle Autonomie und keine Selbstverwaltung gefordert zu haben, dürfte dies die Koalitionsverhandlungen nicht allzu sehr belasten.

Heftig spekuliert wird allerdings noch über eine zweite Variante: Sollte die DU an der Fünfprozenthürde scheitern, könnte in der SDL erneut eine Diskussion über eine Koalition mit der HZDS beginnen. Doch auch hierzu hat Peter Weiss eine klare Bedingung formuliert. In einer solchen Regierung darf einer nicht vertreten sein: Vladimir Mečiar.