Ganz ohne Stab

■ Markus Stenz dirigierte die gut aufgelegte „London Sinfonietta“ quer durch die Avantgarde

Wie rar: Ein zweites Mal beglückte das Bremer Musikfest mit einem Programm, das ausschließlich Werke enthielt, die in unserem Jahrhundert entstanden sind.

Transportierten im Eröffnungskonzert Prokofjews und Ravels Monumentalreißer Eduard Schopfs Kaffeeduft via TV und Satellitenradio in die abendlichen Wohnstuben der gebildeten Kreise, so mußte sich am Mittwoch abend der harte Kern der Musikfreunde selbst ins harte Gestühl der Glocke bequemen, um unter der Stabführung von Markus Stenz (so möchte man es ausdrücken, obwohl er keinen Stab benötigte), unserem mutmaßlich zukünftigen Generalmusikdirektor das renommierte Ensemble der „London Sinfonietta“ bei der Arbeit zu erleben.

Markus Stenz, der den ergrauten Abonnenten der hiesigen Philharmonischen Konzerte den Einzug der Moderne ins traditionelle Bremer Konzertleben behutsam, aber durchaus deutlich angedroht hat, demonstrierte, was ein gut aufgelegtes, motiviertes Team an einem Konzertabend leisten, und was ein neugieriges Publikum mit ständig wachsendem Interesse verkraften, verarbeiten und mit emotionaler Anteilnahme genießen kann.

Für's Exempel stellte die London Sinfonietta ein Programm zusammen, das die gestrengen und schon lange verblichenen Altväter der Modernen Musik Schönberg und Webern kontrastierte mit Werken ihrer in der Blüte der Jahre stehender angelsächsischen Komponisten. Ein Programm, das merkwürdige Erfahrungen ermöglichte: Schönbergs 1. Kammersinfonie markiert den Beginn des Ausstiegs aus der auf's Rückenmark zielenden spätromantischen Ausdrucksexplosion, und Weberns Konzert op. 24, das mit seiner konzentrierten Verdichtung musikalischer Abläufe dazu zwingt, mit dem Kopf zu hören, dessen Gelingen. Die präsentierten jungen englischen Komponisten kehren wieder zurück zur Spätromantik. Zwar fehlt kaum ein schräger, schriller, witziger oder bösartiger Ton, den man dem klassischen Instrumentarium eines Orchesters in den letzten Jahrzehnten zu entlocken gelernt hat, und doch fühlt man sich fast so sicher im hörenden Nachvollziehen, als wenn Franz Liszt einen durch eine sinfonische Dichtung geleitet.

Harrison Birtwistle malt in seiner Komposition „Carmen Arcadia Mechanicae Perpetuum“ mit kräftigen Pinselstrichen und –klecksen freie Assoziationen zu Klees „Zwitschermaschine“ Hat man diesen Klee im Kopfe, assoziiert man teils mit zustimmendem Vergnügen, teils mit Ablehnung. Georg Benjamin, der jüngste Dargebotene (Jg. '60), transponiert mit naturalistischen impressionistischen und teils expressionistischen Mitteln ein Turner-Gemälde (Burg im Sonnenaufgang) in die Welt der Töne. Die Assoziationsangebote der Musik und ihr dramaturgisch geschickter Aufbau erzeugten beim Auditorium spürbar emotionale Spannung, die sich in stürmischem Beifall entlud. Oliver Knussen setzte mit seinen dunkel getönten „Songs without Voices“ ebenso auf vorhandene Erfahrungen.

Der Dirigent und sein Ensemble geleiteten mit „pädagogischem“ Geschick und mit ausgeprägter Professionalität über die an diesem Abend unterschiedlich ausgeprägten Zugangsschwellen zur Moderne. Weberns Konzert erblühte in warmem Glanze, klang geradezu melodiös. Schönberg stürmte und drängte zu neuen Ufern dahin, wobei sowohl sein instrumentaler Witz als auch seine kühlen Klangexperimente prächtig zur Geltung kamen. Sporadisch auftretende Ängste, gleich purzele alles ducheinander, erwiesen sich letztlich doch als unbegründet. Die englischen Stücke erklangen klar konturiert, durchhörbar und zuweilen durchaus emotional gebremst.

Alles andere als endenwollender Beifall für diesen wunderbaren Ausflug ins 20.Jahrhundert belohnte Markus Stenz und die Londoner Musikertruppe. Mario Nitsche