Fünf Dosen Bier bis Bielefeld

Oder war es Karlsruhe? Oder Duisburg? Flowerpornoes heißt die Band, und nachdem „Mamas Pfirsiche“ besungen sind, versucht sie sich an Liedern aus der gesamtdeutschen Provinz – für die gesamtdeutsche Provinz  ■ Von Tilman Baumgärtel

Es gibt Musiker in deutschen Indie-Bands, die würden einem das Diktiergerät um die Ohren hauen, wenn man ihnen sagte, daß sie ein Mainstream-Album gemacht haben.

Tom Liwa gehört nicht zu ihnen. Der 32jährige Duisburger lacht bloß, als ich feststellte, daß die neue Platte seiner Band Flowerpornoes – anders als ihre Vorgänger – auch bei einem Klaus-Lage- Mainstream-Publikum Chancen hätte: „Wenn Mainstream Eingängigkeit und Zugänglichkeit heißt, fasse ich das als Kompliment auf“, sagt Liwa, fügt aber sicherheitshalber hinzu: „obwohl es am Mainstream immer noch genug Hassenswertes gibt.“

„... red' nicht von Straßen, nicht von Zügen“, die fünfte der Duisburger Band Flowerpornoes, ist zunächst einmal einfach eine Sammlung stinknormaler Rockballaden. Bei ihrem bisherigen Indie-Publikum, das die oft lärmigen, aggressiven und schrabbeligen alten Flowerpornoes kennt, könnten sie es sich mit dieser Platte verscherzen – und für Leute interessant werden, die von Blumfeld, Cpt. Kirk & oder den Goldenen Zitronen noch nie etwas gehört haben.

Mit seinem zerknitterten, weißen Hemd, der braunen Anzughose aus dem Second-Hand-Laden und dem spärlichen Kinnbart sieht Liwa freilich noch nicht so ganz aus wie ein aufstrebender Deutschrockstar. Wir sitzen an einem drückend schwülen Juli- Abend im Biergarten vor der Duisburger Kneipe „Metaluna“ an einer lauten, stark befahrenen Kreuzung und trinken Bier. Solche Ecken gibt es nur im Ruhrgebiet. Trotz des milchigen, trüben Sommerabendlichts, das über der Stadt liegt, trägt Liwa noch immer eine Sonnenbrille.

„... red' nicht von Straßen“ sei nicht mit der Absicht aufgenommen worden, ein neues Publikum zu gewinnen, erzählt er. Im Gegenteil: eigentlich sei das Album mehr independent als jede Platte zuvor, da komplett im eigenen Heimstudio eingespielt. Doch „wenn das Indie-Publikum sich nicht mehr für uns interessiert, haben die eben Pech gehabt“. Bloß will er es dann so ernst auch wieder nicht gemeint haben: „Ich behalte es mir vor, daß nach dieser sehr gemäßigten Platte eine Krachplatte kommt.“ Bei Neil Young wisse man ja auch nie, was der als nächstes macht, und im übrigen ginge es ihm sowieso vor allem um die Texte.

Und in denen kann sich, meint Liwa, jeder wiedererkennen: „Einsamkeit und verletzte Gefühle, um die es in meinen Songs geht, folgen immer wieder denselben Archetypen.“ Darum läßt er sich auch gerne durch die Lebensgeschichten von Zufallsbekanntschaften inspirieren: „Die Geschichten, die denen passieren, sind dieselben Geschichten, die allen immer wieder passieren.“

Mit solchen „Geschichten“ arbeiten auch zwei andere alte Helden, an die mich die Flowerpornoes immer wieder erinnern: Alex Chilton und Paul Westerberg, früher bei den Replacements. Auf Vorbilder angesprochen, nennt Liwa allerdings keine Musiker, und erst recht keine deutschen Bands: „Ich sehe mich nicht in einer Tradition mit Ton, Steine, Scherben, den Neubauten oder den Fehlfarben.“ Eher hätten ihn schon Schriftsteller beeinflußt, zum Beispiel Raymond Carver und der späte, vom Buddhismus inspirierte Brecht. Für eine Inszenierung von dessen „Der gute Mensch von Sezuan“, die an der Berliner Volksbühne aufgeführt wurde, haben die Flowerpornoes im Frühjahr eine neue Bühnenmusik eingespielt.

In „Herz aus Stein“, dem Opener der LP, heißt es: „Im Grunde weißt du genau, daß du gar nichts tun wirst / denn du kannst damit leben, hier zu sitzen und zuzusehen / wie sie alles raustragen, was dir gehört / und bis zu dem Punkt ganz am Ende / wenn sie kommen, um dich zu holen.“

Das klingt nach Pastor Niemöller, in jedem Fall nach mittelschwerem Geworfensein. Dabei wirkt Liwa bei unserem Gespräch eigentlich gar nicht so verlassen und unbehaust, wie solche Textpassagen glauben lassen könnten. Er erinnert mich eher an Little Nemo aus den Comics von Windsor McCay, der am Ende jeden Strips aus seinen Träumen aufgeschreckt mit zerzaustem Haar in seinem Bett hockt. Vor einigen Monaten hat er Alexandra Gilles- Videla, die Gitarristin der Flowerpornoes, geheiratet und wohnt mit ihrem Sohn aus erster Ehe im Duisburger Vorort Neudorf, direkt um die Ecke vom Metaluna, vor dem wir sitzen. Doch obwohl er jetzt eine recht geregelte Existenz als Hausmann und Tagesvater führt, ist er sich bei seinen Texten treu geblieben: Sie klingen, als seien sie auf die Rückseite eines Interrail-Tickets gekritzelt worden.

Wie schon auf dem Vorgänger „Mamas Pfirsiche (für schlechte Zeiten)“ geht es auf der neuen Platte um Reisen und Suchen, um Unruhe und Bahnfahren. Darum ist das Ruhrgebiet auch für ihn „eine Art Heimat“ – gerade weil diese riesige Zusammenballung von Vorstädten mit vielen Autobahnen und Eisenbahngleisen dazwischen so wenig zum Bleiben einlädt. Und obwohl die neue Platte „... red' nicht von Straßen, nicht von Zügen“ heißt, reden wir fast den ganzen Abend von nichts anderem.

Es ist die alte Mär vom fahrenden Sänger, vom Reisen als Selbsterfahrung, die Liwa erzählt. Und obwohl die autobiographische Nähe in seinen Texten meist durch Cut-up-Verfremdung gebrochen wird, sind die Texte wegen ihrer Intimität oft nur schwer zu ertragen, lösen manchmal fast ein Gefühl der Peinlichkeit aus: „Ich habe keine Schwierigkeiten damit, mich vor den Leuten auszuziehen“, gibt er zu. „Im Gegenteil: Wenn ich irgendein Tabu entdecken würde, das ich bisher noch nicht berührt habe, wäre es für mich eine Herausforderung, darüber einen Song zu schreiben.“

Durch fast alle Texte zieht sich diese Spannung zwischen Unrast und Nachhausewollen, das Gefühl, wie „das Fernweh plötzlich wiederkam und das Heimweh riesengroß wurde“, wie es in „Unten am Fluß“ heißt. Eine Textblattnotiz zu dem Stück „Einer von denen“ beschreibt sie vielleicht besser als jeder abgetippte Songtext:

„Zwei Tage: Ein sonniger Frühlingsfreitag in Karlsruhe, den ich in Erwartung eines Konzerts Gitarre spielend auf dieser Parkbank verbrachte und mir ganz wie ein fahrender Sänger vorkam. Dann ein verregneter Sommertag, zwei Monate später. Ich nahm in Hannover diese Anhalterin mit, die ganz wenig deutsch und noch weniger englisch sprach und mir erzählte, daß sie seit vier Jahren auf der Straße lebte und daß es ihr egal sei, wohin ich fahre. Bis Bielefeld hatte sie eine Schachtel Zigaretten geraucht und fünf Dosen Bier leergemacht und war, als ich sie rausließ, nicht einmal mehr in der Lage, die Wagentür zuzumachen. Ich sah ihr nach, wie sie in ein argentinisches Steakhaus reinstolperte, warf den Müll aus dem Wagen und fuhr weiter. Nach Hause.“

Flowerpornoes: „... red' nicht von Straßen, nicht von Zügen“, Moll Records 8, im EFA-Vertrieb, Veröffentlichungstermin: 22. August 1994.