: Die Legende von der Wende
Als die Moral noch aus Mainz kam: Die geistig-moralische Wende Helmut Kohls, die Sorge der Intellektuellen – und was aus den großen Versprechungen von 1982 geworden ist ■ Aus Bonn Hans Monath
Es steht schlimm um Deutschland. Nach mehr als zehn Regierungsjahren der Koalition haben Massenarbeitslosigkeit, zerrüttete Staatsfinanzen und eine verantwortungslose Schuldenpolitik die Republik in eine „Art Staatsnotstand“ gestürzt, wie die CDU und ihr Chef Helmut Kohl im Herbst 1982 klagen. Der von den abgesprungenen liberalen Abgeordneten ins Amt gehobene neue Kanzler verspricht Abhilfe – unter einer Bedingung: „Wir werden eine Wiederbelebung der Wirtschaft, eine Wiederbelebung unseres Leistungswillens, unserer Leistungskraft, die notwendige Opferbereitschaft, etwa um den Staatshaushalt in Ordnung zu bringen, nur dann in der Tat bewirken können, wenn eine geistig moralische Herausforderung erkannt und angenommen wird.“
Der schwarze Riese schob ein monströses Programmwort in die politische Arena, auf das kritische Köpfe mit Spott und Häme reagieren sollten: die geistig-moralische Wende. Nicht nur andere Politikziele, nicht nur ein anderes Konjunkturprogramm versprach Kohl nach dem kalten Machtwechsel im Oktober. Denn auf den Technokraten Helmut Schmidt, der die Aufgaben der Politik eng begrenzt hatte, folgte ein Regierungschef, der neues Terrain beanspruchte: Der Mann aus Mainz formulierte nicht nur eine Kriegserklärung an die kulturelle Hegemonie der Linken. Er versprach seinen Wählern neue Sinn- und Zielvorgaben sowie ein neues Heimatgefühl in der Gesellschaft.
Die Witzfigur „Birne“ ist auch für Linke keine mehr
Für die konservativen Kritiker der vermeintlichen Kulturkrise waren natürlich „die Achtundsechziger“ schuld an der grassierenden Vereinzelung, an dem herrschenden Anspruchsdenken, weil sie die festgefügten Werte der Adenauerzeit zerstört hatten. Bei Kohls Regierungsantritt hießen die Leitworte noch Internationalismus statt Deutschland, Selbstverwirklichung statt Leistung, Kritikfähigkeit statt Gehorsam, Friedensfähigkeit statt Stärke. Daß die von ihnen vorangepeitschte technische Modernisierung jene Werte zerstörte, die sie wollten, war für die Konservativen kein Thema.
Die Intellektuellen verziehen dem neuen Kanzler nicht, daß er ihr Monopol der Sinnstiftung brach. Ihr Irrtum über die Wirksamkeit seiner Politik fiel ihnen umso leichter, als der Mann aus der Tiefe der deutschen Provinz seinen hohen Anspruch in einer breit mäandernder Begrifflichkeit vortrug: „Das blanke Ich muß wieder in dem Wir des Volkes aufgehen.“ Heute, da die „Neue Wache“ in Berlin ebenso fest steht wie das „Haus der Geschichte der Bundesrepublik“ in Bonn, ist „Birne“ keine Witzfigur mehr. Die Wende ist geglückter, als es der vor zwölf Jahren noch definitionsmächtigen Linken lieb sein kann.
Aber wie steht es um den versprochenen Bürgersinn, den neuen Zusammenhalt und die neuen Werte? Vor wenigen Monaten malten die Redner auf dem Parteitag der Regierungspartei CDU ein häßliches Bild der sozialen Realität in der Bundesrepublik: Da ging es um Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung, um die hohe Zahl der Sozialhilfeempfänger, die Wohnungsnot und die wachsende Zahl der Obdachlosen. Nur nach der Verantwortung für diese soziale Schieflage fragte in der Regierungspartei niemand.
Alter Wein in neuen Schläuchen
In der am meisten beachteten Ansprache streifte der Redner das Zusammenleben der Generationen und gestand, es sei „erkennbar, daß im Großklima des Landes gegenwärtig etwas nicht stimmt“. Der Redner, der seine eigenen Versprechungen von 1982 nicht erwähnte, hieß Helmut Kohl.
Der Geist steht nicht mehr links, aber auf die neuen Werte müssen alle, die sie wollen, noch immer warten. Um die politische Definitionsmacht kämpft Wolfgang Schäuble, der Kanzler spricht zunehmend unideologisch. Die neue knallbunte CDU-Werbebroschüre „Unser Kanzler“ zeigt Kohl beim Bad in der Menge. Als sei es die Losung des Tages, steht da das zwölf Jahre alte Programm zu lesen, das nie verwirklicht wurde: „Wir brauchen einen neuen Bürgersinn, bei dem wir uns auf Tugenden besinnen wie Mut und Verläßlichkeit, Fleiß und Eigenverantwortung, Mitmenschlichkeit und Hilfsbereitschaft. Dies ist für mich eine der wesentlichsten gesellschaftspolitischen Herausforderungen unserer Tage.“ Die verklärte Zukunft, in der auf unerklärte Weise die Leiden der Gegenwart aufgehoben sind, gehört noch immer zu den konservativen Versprechen. Die Legende von der Wende ist wiederbelebt worden. Sie trägt nur keinen Namen mehr.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen